WHITMAN
Im Zusammenhang mit Nietzsches Buch „Also sprach Zarathustra“ ist mir Walt Whitman als Kontrapunkt mit seiner Poesie in Prosa: „Grashalme“ aufgefallen und als Urschrift und Gegenzeugnis einer geisterscheidenden Weichenstellung bedeutsam geworden. Im Vergleich nimmt sich Nietzsches „Zarathustra“ entzaubert und in den inhumanen Sentenzen letztlich abstoßend, kränkend und befremdlich aus, das Urvertrauen in Menschenliebe vergiftend und einem sich steigernden Wahnwitz aussetzend, gerade noch als Pflichtlektüre zu Studienzwecken zumutbar, so könnte Whitmans „Grashalme“, was Lesegewohnheiten betrifft, Ähnliches auf den ersten Blick widerfahren. Rein äußerlich schreckt schon die an Dramentexte erinnernde Sprachform ab, sie macht nicht neugierig, lässt langweiligen und gestelzten Lesestoff nach Art anstrengender Schulpflichtlektüre vermuten, sich mächtig gegen den Strich hindurchquälen zu müssen. Es ist die dann elektrisierende Bedeutsamkeit, die plötzlich einen Perspektivenwechsel bewirkt, neu hinsehen lässt und im Aufblinken dieser oder jener Stelle einen halb verschütteten Diamanten nicht mehr übersehen lässt. Textmarker malen Treffendes farbig nach, heben Bemerkenswertes und erhabene Stellen hervor. Das Aha-Erlebnis bricht sich Bahn, es mit einem auch auf die heutige europäische Integration hin inspirierenden Meisterstück vor sich zu tun zu haben, aus amerikanischer Hand, Gedanken, von denen eine impulsreiche Lebenskraft ausgeht, weltöffnend, Menschen aller Völker und Rassen als Menschen zusammenzubringen. Das Stück Poetik der Vergewisserung der Neuen Welt lässt angesichts der Fülle staunen, auf Graslandschaft erkannt, diese Frühlingswiese der Erde, sie vor Augen zu bekommen, sie abgeschildert zu sehen und voller Lebenslust und Lebensfreude in dem Aufbruch einer neuen Welt zu erleben.
Mithin für mich klar war, Nietzsche in die Reihe der Höhlengeister einzubringen, entstand zugleich der Wunsch, auch Whitman wegen der Bedeutsamkeit als Kontrapunkt hineinzunehmen. Jedoch die Nachsuche, einen Brückenschlag zum Höhlengleichnis zu finden, hatte sich mir zunächst nicht in der einfachen Weise Blumenbergs gezeigt. Ihm reichte beispielsweise schon ein bloßer Eröffnungssatz, um die Assoziationskraft zu beflügeln, jemand verlasse die Höhle, finde ins Freie, schaue den Himmel, die Sonne, den Mond und die Sterne, die wandernden Wolken und laufe in einen traumhaften Frühling hinein, erlebe die Landschaften, Wälder, Gärten, Wiesen in bunten Farben und durchlaufe die Jahreszeiten, sozusagen spinozistisch Gott in der Natur suchend und in der Fülle entdeckend. So Brockes „Irdisches Vergnügen in Gott“ über 420 Seiten. Es ist ein Naturleben, das den Menschen missen lässt, ihn in Städten und andeutungsweise sonstwie ahnt und ihn einfach als den mitzuerlebenden Akteur aus dem Spiel genommen hat.
Ich habe bei Walt Whitman unmittelbar keinen vergleichbaren, sich aufdrängenden Anknüpfungspunkt gefunden, einen dem Höhlengleichnis zugehörigen und einschlägigen Eröffnungssatz, der Brockes Exposition für den poetischen Jahreszeitendurchlauf so eindeutig und überzeugend gleichgekommen wäre , um für Blumenbergs „Höhlenausgänge“ wichtig zu sein. „Wenn jemand irgendwo in einer Höhle/ … / in steter Dämmerung erzogen wär, / Und trät auf einmal in die Welt, / Zumal zur holden Frühlings-Zeit …“. Ja, es atmen diese Verszeilen Platon in der schönen Version, wie der erste Schritt von der Höhle aus in die Freiheit einen frühlinghaften Beginn erlebt. Ein Brückenschlag zu Whitman mit dem von ihm gehuldigten „Urprinzip“ in geschichtlicher Tiefe, willkürlich aus den „Widmungen“ herausgegriffen, schien mir zu gewagt und rein assoziativ an den Haaren herbeigezogen, wie denn auch einige Verszeilen später eher Sisyphus hervorscheint: „Ewig Beginn aus Dunkel,/Wachstum ewig und des Zirkels Rundung,/Ewig Gipfelhöhe und Versinken schließlich (sicher nur zu Neubeginn)“.
Eindeutiger dem Gedanken der Kerkergefangenschaft verknüpfbar, davon später. Das kleine Auswahlbüchlein „Grashalme“ bei Reclam hat mir keine Ruhe gelassen, das in einer Zeit des anhebenden Umbruchs und des verunsicherten Einigungsstrebens in Europa, nicht nur „ökonomisch“ hungrig, sondern auch durstig nach positiven Impulsen, jedoch von alten Reflexen geplagt und bedrängt, sich einmauernd, nicht mehr weltoffen, fremdenfeindlich, integrationswehrend, ja, da müsste doch ein Weg sein, diesen Schatz einer erwachenden Lebenskraft gegen letzte Schüttelfröste winterlicher Beharrungskräfte – nach der schlimmen Geschichte des „starken Mannes“, eines hochgejubelten „Führerwahns“ – zur Geltung zu bringen! Für ein Europa, das, aus dem Tritt geraten, vor sich hin tappt, zögerlich, unentschieden, unentschlossen, als wüsste es nicht, was nun, wohin! Als hätten die jungen Leute die grenzüberschreitende Liebessehnsucht verloren, das libidinöse Herz exogam (Perfect: I found my love) und als wäre den politischen Zukunftsgestaltern der „Aufbruchsgeist“ weggestorben, um den Schritt zu neuem Horizont und zu eroberndem Paradies (Conquest of Paradise) zu wagen, die Realisation einer neuen Lebensgestalt der Vernunft: Europäische Lande vereinigt als Teil der globalen Welt.
Es war Blumenberg, der mich zunächst abgehalten, aber dann auf den zugangsöffnenden Gedanken gebracht hat, ist doch der Aufenthalt in der Höhle bereits Vergangenheit und die wirkliche Geschichte findet doch mit dem befreienden Bildungserwerb unter den Gestirnen der Himmelswelt statt, die auch „Flashlights“ des Vergangenen kennt. Der naiven Naturentdeckung, die Brockes geschildert hat, steht Whitman mit einem Reichtum der abgeschilderten Welt des Menschen gegenüber, die eben über Brockes bloß schöngeistige Naturbetrachtung der Alten Welt reell hinaus ist und schon die „Neue Welt“ der Zukunft in den ersten Grünspitzen zeigt. Und was für ein Gemälde sie in bunten und kräftigen Farben des Lebens aufführt, einen Weltspiegel, der heute gar noch dem werdenden Europa Vorlage sein kann, sich diesen Lebensgeist anzueignen und sich darin zu verjüngen und sich selbstkritisch für den Geist des Aufbruchs von Fesseln eines überholungsbedürftigen „Cultural Lag“ zu befreien.
Im Vergleich zu Nietzsche, der, anders als Whitman, einer „gymnasialen“ Bildungsstufe entsprungen ist, ein gebildeter Kopf, mehrsprachlich befähigt, so nimmt die Befreiungsgeschichte Whitmans einen anderen Verlauf: „Laufbursche eines Anwalts, Setzerlehrling, Schullehrer, vagierender Zimmermann, Zeitungsreporter und Redakteur … Krankenpfleger und längere Zeit auch Angestellter der Bundesregierung in „Washington.“ (Grashalme, S. 221f.) Und hier ist auch zum bloß einkleidenden Höhlengleichnis die einfache Frage in der Sache gegeben, um die es im Vergleich gehen würde: Aus welcher Bildungshöhle kommst du denn? Welchen Geist lebst du denn warum in der Welt so aus, wie du ihn lebst? Wie hat die Lebenserfahrung auf dich Einfluss genommen?
Erdgebunden wächst Whitman auf, erdentfremdet, der Bildungswelt entsprungen, Nietzsche. Der Pastorensohn, „ein begabtes, braves Kind. Er verfasst bereits mit 10 Jahren Gedichte und komponiert ein erstes Musikstück. Wegen der vielen Bibelsprüche, die er auswendig weiß, wird er der ‚kleine Pastor‘ genannt. Seine wissenschaftliche Karriere beginnt früh: Mit 25 wird er Philologieprofessor“. (Philosophie, S.142) Lohnenswert und aufschlussreich ein Vergleich des Lebensweges beider. Man kommt ins Nachdenken. Es sind Lebensläufe, die ein Licht auf Weichenstellung und die durchschlagende Orientierung werfen.
Hat Nietzsche in jungen Jahren eine aufblitzende Bilderbuchkarriere zum Professor hingelegt, so ist Whitman den mühseligen Weg der kleinen Schritte bis zum Erfolg gegangen, hat sein Lebenswerk „Grashalme“ (über 700 Seiten) fortwährend von einem Dutzend Gedichten auf ein überquellendes Lebenswerk angereichert. Nicht im eigenen Land hat er den ersten großen Zuspruch erfahren, sondern in Europa hat sein Werk eingeschlagen und begeisterte Aufnahme gefunden, ist sozusagen ein Welterfolg geworden, der nach Amerika zurückgewirkt hat. Für Nietzsche hat sich nach dem bewunderten Blitzstart zum Professor auf dem Feld der Frühwerke kaum Zuspruch gezeigt. Enttäuschende Anfänge des Schaffenden auf literarisch-kultureller Ebene. Ebenso am Ende seiner Schaffensperiode sein von großen Hoffnungen und Erwartungen aufgelegtes Buch „Zarathustra“, nicht einmal ein Dutzend verkauft. Was für eine bittere Niederlage! Jedoch ungebrochen der Wille zum großen Wurf und der Weiterarbeit an einem solchen, durch Nachlassveröffentlichung zum Welterfolg hochgepuscht: „Der Wille zur Macht.“
Nietzsche hat von Whitman profitiert, sich inspirieren lassen und hat sich daran gemacht, das junge Amerika der Neuen Welt vom „God’s own Country“ zum ausgerufenen „Übermenschen“ der europäischen Welt umzudichten. Atmet Whitmans Werk reelle Lebenserfahrung, so unterfüttern Lesefrüchte der Buchstabenwelt Nietzsches Denkweise, die reell vom Theatermodelldenken her bestimmt und dem künstlerischen Vorstellungsraum verhaftet ist. Die „unfeine“ Welt der Massen findet kein sonderliches Interesse, wird abstoßend erlebt. Der mathematisch-experimentelle Denkansatz als Prüfstand philologischer Gescheitheit und Gelehrsamkeit im Hinblick auf konstruktives Weltverhalten ist dem „ vom Schicksal geschlagenen Poeten“ in seiner abgekapselten Welt fremd.
Die Frage tut sich auf, warum Nietzsche so gnadenlos Whitman konterkariert hat, einer mentalen Verstockung erlegen gewesen ist und ein inhumaner „Gedankenverbrecher“ geworden ist. Für Whitman ist „Compassion“ ein wesentlicher Grundzug mitmenschlicher Anteilnahme, bei Nietzsche gilt sie dem Tier, einem Pferd, geschlagen vom Kutscher. Mitleid lässt Nietzsche, so wird es berichtet, den Hals des Pferdes umarmen. Im Zarathustra gilt ihm als letzte Sünde für die neu zu schaffende Welt des Übermenschen: Mitleid! So hat denn auch die Zeit des Nationalsozialismus Zarathustras letzte Botschaft der Mitleidslosigkeit sich offenbart: Menschen, fabrikmäßig ausgelöscht, galten weniger als Tiere. Für Whitman war es Menschensache, auch einem „entflohenen Sklaven“ wie der biblische Samariter beizustehen. Und ein großes menschliches Mitempfinden für vom Schicksal Betroffene fließt immer wieder ein, bei Nietzsche dagegen zu tilgende Missratene und Lebensunwerte.
Wie die Weggabelung im Denken und Dichten beider erklären? Spielt vielleicht bei Whitman die Geschwistererfahrung hinein, „Compassion“ durch empathischen Umgang mit dem „Familienunheil“: „ein geistig abnormer Bruder, auch der zweite im Irrenhaus, der dritte ein Säufer“. Für Nietzsche lässt sich Vergleichbares aus dem Familienfeld nicht heranziehen, in welcher Hinsicht auch immer. Sein erstes Schaffen kennt noch nicht die menschenverächtliche Grenzüberschreitung, das ethische Einerlei, das Handeln jenseits von Gut und Böse. Der Knick im Denken, der auch der ressentimentgeladenen Stärke freien Lauf lässt, hängt mehr oder weniger mit „Entthronungsgefühlen“ in der Karriere wie auch mit der Geschlechtskrankheit zusammen, letztere stark in das Lebensgefühl eingreift , Lebensfreude nimmt und in die Einsamkeit, in die brütende Kopfhöhle, vom Unglück geschlagen, geführt hat.
Nietzsches Frauenbild hat sich ins Negative verzerrt. Für eine von ihm begehrte Frauenwelt ist er ein Aussätziger geworden. Er wertet das Liebesleben ab. Verspottende Kritik, die den letzten Menschen gilt: „Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.“ Ganz anders Whitman. Er zieht aus der Liebeskraft ungebrochen eine erhebende Lebensfreude und singt ihr, dieser Urkraft des Lebendigen, überschwängliche Lieder der wiederbelebten Zeugungskraft. Des Wachsens und sich Vermehrens zu einem großen Volk, einer Nation.
Im Zusammenschnitt eine Kostprobe, aus „Adams Kinder“. Es bietet sich auch das ganze Werk mit vielen thematischen Setzungen an, bedeutsame Zeilen zu einem Mosaik zu entleihen, gleichsam eine Technik des Neukomponierens, auf die Whitmans Poetik wie ein Baukastenangebot reagiert:
„Die Annäherung
Das Antlitz
Die mystische Raserei
Zwei Falken in der Luft
Der Sturm der Leidenschaft
Oh, lass mich untergehen
Oh, du und ich
Wonnejauchzen
Stunde der schimmernden Sterne
Preis dir, göttlicher Akt!“
Liebe, die von Mann und Frau, sie ist Teilhabe am Göttlichen. Sie ist der Angelpunkt des Lebens, des Lebendigen überhaupt. Sie ist das, wovon der Mensch in der Vorzeit ausging:
„Wie Adam früh am Morgen,
Trete ich aus meiner Behausung hervor, durch Schlaf erquickt;
Schau mich an, wo ich vorübergehe, höre meine Stimme,
tritt zu mir her“.
Nietzsche lässt in dieser Weise angeregt seinen „Zarathustra“ auch aus der Höhle zu seinem Tagwerk heraustreten und den Gegensprecher und Versucher der Wildniserneuerung abgeben. Ein Paradies der Starken, des Übermenschen. Er ist mit Blick auf Whitman der Widersacher des neuen Geistes, der Neuen Welt gegen die Alte Welt. Anders gefasst: Der Nietzsche der Alten Welt ist auch ihr böser und unbarmherziger Einflüsterer, einem fortschrittlich humanen Menschenbild entgegen. Nietzsche hat sich nicht vom neuen Selbstbewusstsein, das Whitman in die Welt hinaussingt, mit einstimmen lassen. Er fällt gegen Whitmans neu erwachtes Selbstbewusstsein ab. Das Im-ponierende des Selbstbewusstseins im kurzen Zusammenschnitten.
„Ich bin ein Gipfel vergangener Dinge
Tief unten gewahre ich das ungeheure Urnichts
Ungeheuer sind die Vorbereitungen für mich gewesen
Kreisläufte trugen meine Wiege
Ehe ich von meiner Mutter geboren ward, leiteten mich die Zeitalter
Mein Embryo ist niemals erstarrt gewesen
Um seinetwillen zog sich der Sternenhimmel in eine Kugel fest zusammen
Jetzt, auf dieser Stelle, steh ich mit meiner rüstigen Seele.
O Spanne der Jugend
O Mannesalter
O Greisenalter“.
Ein Schlaganfall trifft Whitman durchaus empfindlich in der Schaffenskraft, doch ist er einer, der, von Nöten, Sorgen und Misshelligkeiten des Tages verschont bleibt. Er kann fortgesetzt eine steigernde Anerkennung und Wertschätzung wie auch Ehrungen erleben und nicht genug amerikanische Resonanz bekommen.
Es geht noch immer um das Höhlengleichnis, das es an Whitmans Werk „Grashalme“ zu belegen und nachzuweisen gilt. Allerdings befinden wir uns schon im Freien. Whitman hat die Welt der Höhle hinter sich, kennt die europäische Höhlengeschichte nur noch aus Erzählungen, lebt in der freien Welt, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Amerikanische Unabhängigkeitserklärung, Menschenrechte und Französische Revolution gehören als Zäsur zusammen, begründen nachhaltig einen neuen Geist der Welt: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Diese Leitworte sind der Genese einer Neukorporierung von Einwandernden und Eingewanderten wie auf den Leib geschnitten. Der europäischen Knechtschaft entronnen. Endlich frei. Befreit von Hörigkeit, Kleidervorschriften, vom Dünkel der Herren, von Anerkennungslosigkeit, von Zweitklassigkeit, nicht mehr den Launen und der Willkür von abgehobenen Herrschaften ausgesetzt.
Ein Leben fortan aller in Gleichheit vor dem Gesetz der Natur, sei es im Einklang mit ihr oder als Schicksalsmacht ohne Gegenmittel oder Überlebensnische, doch vor dem Gesetz unter den Menschen als Gleiche, als Freie in weitläufiger Natur gemäß der goldenen Regel, nicht mehr unterschiedlichen Standes, einer unterscheidenden Gerechtigkeit nach Ansehen und Rang der Personen, sondern vor den elementaren Gesetzen des Landes gleich , von Weltmeeren umschlossen, von der Alten Welt durch den Atlantik getrennt.
Ein freies Leben fortan, in einer noch ungemeisterten Welt, auf menschliche, nachbarschaftliche Hilfe in der Not verwiesen, um vielerlei Gefahren durch Zusammenhalt zu trotzen, aber auch durch Chancen im Zusammenspiel zu nutzen, entdeckt es lebenswichtig den Geist der Brüderlichkeit und der anhebenden Schwesterlichkeit , vor allem das demokratische Zusammenwirken zum Gemeinwesen im alltäglichen Leben.
„Walt Whitman, ein Kosmos, Manhattans Sohn“. Wie ein Falter in der Frühlingszeit auf bunter Wiese fliegt er umher, trunken vor lauter Lebenslust von Blumenelfen angetan, flattert er herum, registriert die vielfältige Welt kreuz und quer, die Schönheit der Natur, die Berggipfel, Seen und Wasserfälle, Wälder und Prärien, die Menschen in der Neuen Welt, wer sie sind, was sie tun, denkt sich in andere hinein. Er hört, sieht, ist, tut, nimmt in sich auf. Er fordert nicht schlecht die Weltgeographie des Lesers heraus, Kundigkeit anderer Rassen, Völker und kultureller Besonderheiten und vieler Religionen. Er ist einer, der zum Gott einer höheren Religion gefunden hat: Humanität. Er steht gegen Sklaverei, Diskriminierung, Intoleranz, Rassismus, gegen Menschenverachtung, für Menschenliebe!
Ich weiß nicht, ob Whitman mit Platon und dem Höhlengleichnis bekannt geworden ist. Wenn nicht, hätte er instinktiv die wesentlichen Momente getroffen, vornehmlich das, was durch sprachliche Spiegelungen (Eidolon) eingeholt werden kann. Das Flächige ist dominant, das Anblickhafte, zuweilen auch durch kleinen Einblick ausgeführt. So heißt es im Zusammenschnitt:
„Nimm als Licht für alles und als Anfangslied
Das Lied von Idolen.
Ewig Beginn aus Dunkel,
Wachstum ewig und des Zirkels Rundung,
Ewig Gipfelhöhe und Versinken schließlich
Ewig Veränderung
Vergängliches Gebild
Der alte, alte Trieb,
Sieh! Errichtet auf den früheren Gipfeln neue, höhere Gipfel
Von Wissenschaft und Neuzeit stets getrieben,
Der alte, alte Trieb: Idole“
Die Höhle, hier nur als ewiger Beginn aus dem Dunkel angeführt, tut an anderer Stelle eine „Sängerin im Gefängnis“ als „wunderliche, alte Hymne“ kund. Vermögen wir, vom christlichen Anspruch mit Sündenzettel nicht abgelenkt, das bloß hilflose und wegsuchende Kind zu erkennen, das nicht ins Freie gefunden hat, das Kind im Verbrecher, hilflos sich selbst überlassen und orientierungslos geblieben , den wirren und ungeklärten Begehrlichkeiten und Lockreizen ausgeliefert?
„Ein‘ Seel‘ geengt durch Kett‘ und Wände,
Schreit hilf! o hilf! Und ringt die Hände
Blutend das Herz, von Tränen blind;
Nicht Gnad‘ noch Ruhebalsam find’t.
Rastlos sie schreitet hin und her:
‚Ach Tag und Nacht voll Herzbeschwer!
Nicht Freundeshand! Nicht lieb’ Gesicht!
Noch wer ein gütig Wörtlein spricht.
Nicht ich war’s, die in Sünde sank;
Der unbarmherz’ge Leib mich zwang.
Wie tapfer auch mein Widerstand,
Sein‘ Übermacht mich überwand. ‘
Gefangene liebe Seele du!
Harr sicherer Gnade noch in Ruh.
Bald trifft aus Himmelsheimat ein,
Erlöser Tod, dich zu befrein.
Nicht mehr Verbrecher, Schmach noch Pein!
Erlöst, zu Gott befreit und rein!“
Wir sind mit der Sängerin im Gefängnis. Es geht um einen Verbrecher, aus welchen Gründen auch immer, es geht um die Todesstunde, die Hinrichtung, die Anwesenden noch unter dem Eindruck der Sängerin, in Nachdenklichkeit versunken.
„Eine wundersame Minute,
Mit tiefem halbersticktem Seufzen und Laut roher Menschen, die zu weinen beginnen;
Erschüttertes Atmen junger Leute, die an ihre Heimat denken,
An ihrer Mutter Wiegenlied, der Schwester Pflege und glücksel’ge Kindheit,
Und deren lang verstockte Seele von Erinnerungen sich erwärmt;
Eine wundersame Minute dies
Nach Jahren noch, vielleicht in letzter Stunde, der schlichte Refrain:
‚O Schau voll Trauer, Schmach und Pein!
Gedanke furchtbar – Verbrecher sein! ‘“.
Wer ist der Verbrecher? Was hat er getan? Geht es um einen schießwütigen Massenmörder. Um einen Mann? Oder wird auf ein „Gretchen“, auf die Kindesmörderin angespielt?
Der Hoffnungsfunke auf Erlösung von solcher Pein in Zukunft schließt sich an: „An ihn, der gekreuzigt ward“. Dieser Auftrag an uns alle:
„Wir Mitleidsvollen, Erkennenden, wir Einiger der Menschheit
Drohend umgeben sie uns
Dennoch wandern wir, frei über die ganze Erde
Bis wir Zeiten und Zeitalter durchdrungen haben, bis Männer und Weiber aller Rassen im kommenden Jahrhunderten, Brüder sind und Liebende gleich uns.“
Nicht kampflos. Amerikanischer Bürgerkrieg. Idole. Abraham Lincoln. Mount Rushmore: Noch keine Kultstätte der in Fels gehauenen Präsidentenköpfe, der Idole. Der Tod „en masse“ ist gesichtslos, ist privat, ist Rückgang der Lebenshalme zu Tausenden in den Schoß der Wiese und alsdann ein erneutes Hervortreiben und Erwachen der Sprösslinge, neuer Lebensgewächse der Prärie. Das Leben geht weiter. Die Schlachten sind geschlagen.
„Die Lebenden aber blieben zurück und litten; die Mütter litten
Weib und Kind und die Gefährten, denen das Gedenken blieb“.
Whitman lässt nicht wirklich ins Innere des Menschen blicken, bleibt äußerlich, verhält sich registrierend, betreibt sozusagen eine objektive Bestandsaufnahme der subjektiven Impressionen im Vorgefundenen. Was auf geschichtliche Tiefe hindeutet, ist nur abstrakte Anspielung, bleibt an der Oberfläche, erklärt nichts, was nicht schon durch Anspielung suggeriert wird. Die einfache Welt des Graslandes bestimmt das Leben der Menschen. Landwirtschaftliches Leben in Hütten und Blockhäusern, Ackerbau und Viehzucht, Trapperleben in der weitläufigen Natur mit Sonnenseiten und auch gefährlichen Schattenseiten. Verstreute Menschensiedlungen, noch keine großen Städte mit hohen Wolkenkratzern, noch keine ausgefallenen Vergnügungsstätten und Parklandschaften, die einladen. Noch überwiegt die Front Natur und das Verwiesensein der Menschen aufeinander, das Hervorbringen geordneter Lebensverhältnisse, weniger das, was durch die Verstädterung auch an Lastern, Krankheiten und Verbrechen eine neue Lebenswirklichkeit gewinnt und auch von weither aus der Alten Welt eingeschleppt worden ist.
Es gibt drei Ausreißer der feinfühligen Selbstaussage, die andeutungsweise das Innenleben zum Vorschein bringen, jedoch geständnisscheu versteckt sind oder in einem Fall einfach das Hinterfragen ausblenden und denen zugleich aus heutiger Sicht reflexive Aufmerksamkeit für den jeweils heiklen Punkt zukommen muss, sei es zunächst im Hinblick auf ein altes Baumgewächs hier, dann dem Schicksal eines Vogelpaars da und schließlich das, was ein mörderisches Gemetzel als nacktes und grauenvolles Faktum betrifft.
Allgemein vorausgeschickt: Hermann Hesse hat an dieser Schwäche des Flächigen und des nur in metaphorischer Verkleidung ausgeführten Innenlebens seine Stärke der Ein-fühlung als Dichter der Innerlichkeit entdeckt und hat aus einem gewaltigen Poem Anregungen geschöpft, für Romane, Erzählungen und auch Gedichte. Er hat der menschlichen Innenwelt Fühlbarkeit verliehen, ihr Worte der Empfindung gegeben und er hat damit großen Erfolg in Amerika, hungrig geworden auf mehr Innerlichkeit, eingefahren. Whitmans überschäumende Weltkunde hat er auf „Kindheit des Zauberers“ abgekürzt, vom neuen herausfordernden Weltgeist und seiner Fülle abgeschnitten, auf das kleinere Format europäischer Staaten gebracht. Kein ausufernder Aufriss durch einen zu weit gesteckten Horizont, sondern eher Beschränkung durch Auswahl und sich im Lebenskreis einrichten können. Politische Ideologen und Akteure haben über den Lebenskreis hinaus auf Machtbestrebungen erkannt und sind mit schmalspuriger Welt-kenntnis vom Ganzen hausieren gegangen und haben Exzesse der Weltvergewaltigung ausgelebt. Nietzsche und Nationalsozialismus gehören zusammen, geben zu Whitman und US-Amerika den Kontrapunkt ab. Da hilft keine Entschuldigung mit der Schwester, die das Werk ihres Bruders verfälscht haben soll. Sie hat geglättet, hat die gute Lesbarkeit angestrengt, aber nicht inhaltlich etwas unterschoben, das dem Bruder nicht zugehörig oder gar sinnverfälschend konträr gewesen wäre. Denkwürdig ist, dass so viele schon mit dem „Zarathustra“ an selektiver Enge und Voreingenommenheit leiden, zu durchsichtig, nämlich um sich exkulpieren zu können. Man habe, wie’s sich gehört, das Gute entnommen und das Schlechte nicht an sich herangelassen.
Der erste Vergleichspunkt aus heutiger Zeit hat mit dem amerikanischen Ausscheren aus dem Pariser Klimaabkommen zu tun, mit der Erschließung von Fracking-Gas, dem unersättlichen Zugriff auch auf Naturschutz-Reservate, dem Hochmut, als sei der Klimawandel ein bloßes Fantasiegespinst, reine Einbildung, von Konkurrenten ausgedacht. Zugespitzt: US-Amerika als Quertreiber gegen die mühselige Zusammenführung der Staatenwelt zur ökologische Weltgemeinschaft. Ein kurzsichtiges „America First!“, auch wenn die Weltgemeinschaft auseinanderfliegt! Wie begrenzt und selbstschädigend doch der präsidiale Horizont einer Weltmacht sein kann. Ein gewisser Leichtsinn spricht auch aus Whitmans „Sterbegesang“ auf einen Sandelholzbaum, der mit seiner tausendjährigen Standortgeschichte als „König der Wälder“ von Axthieben niedergehauen wird, „für ein höheres Geschlecht“. Unbemerkt der Wahnwitz, der aus der Perspektive von Grashalmen das hochgewachsene Altertum opfert und der auch folgerichtig als Ernte die verbrannte Erde einfährt. Ist der Leichtsinn im Umgang mit den Schätzen und Kostbarkeiten der Natur den „geschichtslosen“ Amerikanern in die Wiege gelegt, dass sie gar nicht begreifen, was sie mit einem Graslandbewusstsein in der sie tragenden Natur für sich und die Welt anrichten?
Der zweite Vergleichspunkt hat mit amerikanischen Präsidenten zu tun, die in ihrer Sexualität als Triebgesteuerte haben aufhorchen lassen. Dazu eine Vielzahl an übergriffigen Typen in Alpha-Position, die ihre Machtstellung missbraucht und sich im wahrsten Sinne des Wortes begehrte Frauen „unterworfen“ haben. Das Hohelied, das Whitman auf die Frauen eingebracht hat, verträgt sich überhaupt nicht mit sexistischen Herrschaftsansprüchen, als Objekt männlicher Begierde. Der US-Amerikaner: ein Macho, der die Frau als das unbekannte Wesen noch nicht entdeckt hat? Whitman doch kein Frauenversteher auf gleicher Augenhöhe trotz bemerkenswerte Spruchweisheiten?
"Und mir zu Seite oder hinter mir folgt Eva;
Oder auch sie voran und ich, der ihr folgt: es ist das gleiche."
Vielleicht wollte ich nicht genauer sehen und nachforschen, wo es doch einige Auffälligkeiten gegeben hat, sich Gedanken machen zu müssen.
Es fängt schon dominanzbestimmt an, wenn es heißt: „Adams Kinder“. „Ein Weib harrt meiner“. „Eine Stunde Raserei und der Wonne“. „Ich bin der, der mit Liebe peinigt“. „Bist du die neue Person, die sich zu mir hingezogen fühlt?“ „Zeugungstüchtigen Frauen mache ich stärkere und flinkere Kinder“. „Ich kann euch nicht lassen, ich will euch wohltun“. „In euch senke ich tausend Jahre der Zukunft“. „Ich rechne auf Liebesernten“. „Poesie der Nachteinsamkeit“.
Wer Whitmans Liebeswerbungen liest, dem könnte sich der Gedanke aufdrängen, wo die Denke gesucht werden muss, die den Männern Fortpflanzungslust einflüstert, auf dass sie sich mannesbewusst wissen und sich darauf verstehen, ihre Gene zu streuen. Vielleicht ist heutige Übergriffigkeit noch ein Nachreflex, den Veränderungen im Geschlechtsleben entgegen, nicht mehr wesentlich von Schutz- und Sicherheitsbedürfnissen geprägt, die im Freien einer nächtlich unheimlichen Natur gegen Gefahren Nähe suchen lässt und auch im Gefühl von Geborgenheit rein unmittelbar empfänglich macht. Erklärt das Whitmans Lendenposition für das ausschweifende Liebesleben, unterwegs in den Weiten Amerikas? Was Liebende einander von sich in vielen Weisen zu sagen haben und aneinander an Freude und schönen Dingen immer wieder erleben, was sie an Bedürfnissen, Wünschen, Sehnsüchten und Glücksvorstellungen haben, findet keinen Gesang einer gemeinsamen Liebesgeschichte. Whitman genügen die Zeugungsakte des potenten Mannes. Was die Kinder angeht, die Verantwortung für die gezeugten Kinder aus der „Samenspende“, das ist wohl allein die Sache der Frauen. So bleibt denn die Frau zurück und der Mann zieht seines Wegs weiter. Oder anders: Hat Whitman seine Gesänge als Möchtegernbeglücker zum Besten gegeben, sich fiktiv mit Wunschvorstellungen eingebracht, seinen Bedürfnissen das Wort geliehen und mit seinen Fantasien dem männlichen Publikum am Ende einen Bärendienst und keine Authentizität erwiesen und nicht wenige Jugendliche auf den Irrweg von Übergriffigkeit geschickt, sich in der Genestreuung mit dem werbenden Köder der Augenhöhe auszuprobieren, auch für „Unterwerfung“ nachzuhelfen und sich dann nach dem Akt davonzustehlen? Das Defizit in der Geschlechterproblematik scheint jedenfalls offensichtlich zu sein. Der Akt macht’s nicht. Liebende müssen einander für Kopf, Herz und Hand Dinge zu sagen haben und Frequenzen des Erlebens dafür frei haben. Mutmaßlich scheint Whitman doch den Schmerz, den Kummer und das Ende einer Liebesbeziehung erfahren zu haben. Das Ganze verdeckt als Geschichte eines Vogelpaares geschildert, es wird das Herzklopfen in der Beobachtung des Weibchens nachempfunden, ohne näheren Hintergrund für nachvollziehbares Begreifen. Geht es um Eifersucht, um andere Interessen, um Rückzug durch Krankheit? Whitman führt keine Beweggründe an. Am Ende steht der Tod des Weibchens, sei es im konkreten oder übertragenen Sinn. Als Wesentliches ist die Sprachlosigkeit dieser Liebesgeschichte zu nehmen, kein erinnertes Liebesgeflüster, keine das Herz berührende Leuchtfarben, nachhallende Stimme, selbstvergraben jede Seite, das Steckenbleiben im Gefühl hier und das einsame Wegsterben, der unverstandene tödliche Ausgang da.
Zum dritten Vergleichspunkt, der auch mit der Sprachlosigkeit in Bezug auf Entzweiungsmomente zu tun hat. Es lebt Whitman in der Neuen Welt in großer Einstimmigkeit mit sich selbst. Vielleicht ist die schmerzliche Erfahrung in der Liebe schon Hinweis und Ausdruck einer mangelnden Fähigkeit, mit Konflikten anders umzugehen, dadurch nämlich, sich aufeinander einzulassen und auszutauschen, aufeinander zuzugehen und sich vom Gemeinsamen tragen zu lassen, nicht als Entzweiung und Trennung bis hin zu bloßer Selbstbehauptung des Guten und Rechten für sich, dem anderen entgegen, gar bis zum Äußersten bereit, Position zu beziehen, dafür einzustehen, auch für Entscheidungen mit tödlichem Ausgang. Kann, was in der Liebe an Dialogschwäche leidet, in anderen Lebensverhältnissen, die das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Zusammenwirken erfordern, irgendwie auf wundersame Weise besser gelingen? In der Politik lieben die demokratischen Geister einander nicht, sie monologisieren, debattieren, sind dialogunfähig, lassen Kritik nicht an sich heran. Koalitionen, sie gleichen den Eheverhältnissen, wer sich nach wem auszurichten und einzurichten hat. Worte mit gutem Vorhof nehmen unkritisch ein, lassen nicht daran denken, noch genauer fall- und umstandsbestimmt wissen zu sollen.
Nicht nur flächig lesen sich die Gesänge, auch eindimensional. Das Helle und Gute und Positive gibt den Ton an, ein unsichtbarer Schatten spielt schicksalhaft mit und fordert plötzlich Abwehr und Kampf heraus, der den Tod so vieler platt und nichtig erscheinen lässt. Einfach schrecklich, was da passiert ist, wie hintergrundlos das Morden und Hinmetzeln aufgetreten und von den Opfern erlitten worden ist. Keine Zwiespältigkeit wird genährt. Kein innerer Konflikt findet statt. Whitman ist einstimmig mit sich selbst, ohne jene zwei Seelen in der Brust. Er unterläuft das Wissen um die antiken Tragödien, den Gewissenskonflikt, den inneren Widerstreit mit sich, die Fallerfahrung und die Lebenslehre daraus.
Whitmans Gesänge atmen etwas von jenen Gedenkreden, die mit eindrucksvollen Schilderungen Schreckenszeiten vor Augen führen und doch dasjenige fliehen, worum es eigentlich geht, um ursächlich verstehen zu können. So Finger, die auf andere zeigen, um bei sich den unangenehmen Punkt übergehen zu können, das Eingeständnis der Selbstverfehlung, die Aufhebung der reinen Einstimmigkeit mit sich selbst. Fortwährende Eroberungen, auch wenn sie dem Guten dienen sollten, sind in Gänze weder lupenrein noch in jedem Fall gerechtfertigt gewesen! Whitman fehlen die schweren Stunden vor der Entscheidung, es gibt kein Ringen und Wägen um Ziele und Mittel und Wege, sei es in der Auseinandersetzung mit anderen, in der Auseinandersetzung mit sich selbst, mit den Grenzen des Wissens. Wortmagie findet statt, kein kritisches Wissen. Rein plakativ: Demokratie. Whitman erlebt sich in der poetischen Entäußerung als Vollzug des Geistes der Neuen Welt, die in Entwicklung begriffen ist, noch ungehemmt, arbeitswillig, erfolgshungrig, irritationslos, immer wieder erobernd, neuen Höhengipfeln hinterher. Wild West: waffenhörig, zu viel Kavallerie, wenig Selbstreflexion und Selbstkritik. Kein Thema die von überlegener Waffengewalt ausgehende Landnahme, die Vertragsbrüchigkeit mit diesen hier, die Sklaverei mit jenen dort. God’s Own Country. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, es braucht die Menschen aus aller Welt für die Entfaltungschancen, lädt agrargesellschaftlich ein und schreitet unternehmerisch in den Wirtschaftsbereichen größenorientiert durch Spezialisierung und Rationalisierung fort.
Größe sucht das Größere auch über die Grenzen hinaus, in die Welt hinein, baut an einem amerikanischen Koloss, zunehmend auf tönernen Füßen. Amerikanisches Größestreben gleicht dem Hamsterlauf, der das Rad in Bewegung hält und doch nicht von der Stelle kommt. Weder der Hamster noch das Rad. Vielleicht spricht Whitman den nachwirkenden Geist des Erlebens unmittelbarer Befreiung aus, eines jungen Geistes, der noch nicht die Existenz des Menschen auf dem Schirm hat, den Menschen, der im Angesicht des Todes sein Leben antizipiert und es gestaltet. Whitman genügt die Sichtweise auf anspruchslose Grashalme, ihr alljährliches „Stirb und Werde!“ im Schoß der Graslandschaft. Sicherlich zu anspruchslos, wenn denn auch die andere hochtreibende Welt der Gewächse bedacht wird. Was kann ein Mensch heute nicht alles aus seinem Leben machen und vorantreiben! Für die bloße Lebenskultur hat Sigmund Freud „Adams Kindern“ den zivilisatorischen Triebverzicht bedeutet.
Ein anderes Amerika ist hochgeschossen. Turmhohe Bauten, die zum Himmel streben, Wolkenkratzer, höher als Mammutbäume, umringt von Landschaften aus Stein, Städtelandschaften. Ströme der Einwanderung aus aller Welt, die da – einem drohenden Schicksal entronnen oder das Glück im Land der unbegrenzten Möglichkeiten suchend – einen schier unersättlichen Bedarf an Arbeitskräften befriedigen und weitere Landnahme, Verstädterung und technischen Fortschritt vorantreiben. Grasland, das kein Grasland mehr ist, über das die Welle der agrarwirtschaftlichen Urbarmachung durch Siedlerhungrige gekommen ist, die europäischen Wissensstand mitgebracht und frei von Fesseln ausgelebt haben.
Es schließt sich die Welle des technisch mechanischen Fortschritts an, schon fast vergessen der Fordismus, der Siegeszug des T-Modells, der ein Anwendungsfeld der Entfaltung ohnegleichen gefunden hat und die industrielle Produktion beflügelt, über die Grenzen hinaus treibt und durch den militärischen Rüstungskomplex zum großräumig machtpolitischen Strategiedenken im weltpolitischen Horizont findet, von wirtschaftspolitischen Interessen der freigesetzten und stets noch zu kleinen Märkte begrenzt. Am Ende ein überdimensionierter Rüstungskomplex als Geschäftsmodell. Die Siedler- und Pioniergeschichte zum eigenen Staatswesen als Eroberungsgeschichte setzt sich außenpolitisch als Fortsetzungsgeschichte mit Geschäftsinteresse und moralischem Impetus fort. Highlights der Riesenschritte reichen vom Ausgang des Bürgerkriegs in den USA über die weiteren Knotenpunkte des I. und II. Weltkrieges hinaus. Ein Riese als Hoffnungsträger mit der Freiheitsfackel für alle Welt, der die Völker der Welt auf seinem Boden versammelt und zur Mittelpunktstätte der Welt avanciert ist, den Wettkampf der Systeme bestanden hat und nun sogar die weltübergreifende Fortschrittswelle der digitalen Revolution freigesetzt hat.
Der Sturmlauf der Neuen Welt zu den Höhen des mitbeförderten Eintritts in die Globalgeschichte der Menschheit auf dem Planeten Erde hat prometheisch gewirkt und ist dem Epimetheus die Aufmerksamkeit für Häusliches, Überdehntes und anderes Unerledigtes schuldig geblieben. Der unentwegte Eroberungsdrang hat den Weg zur Weltmacht genommen und ist auf andere Schwergewichte gestoßen, hat sich nicht als Größe und Fall erlebt, ist ungebrochene und selbstständige Einzelgröße für sich, kein Teamplayer in der Staatenwelt, entweder ohne Dreinsprache in der Führungsrolle oder ein selbstsüchtiger Riese. Doch auch Riesen stoßen auf Grenzen ihrer Vermögensstärke. Es fällt der Rollenwechsel schwer, sich auf Verträglichkeit und Duldsamkeit und Dienstbarkeit zurück-zunehmen und dergestalt sich neu zu öffnen. Der Zwang der Realität kennt die Auflehnung gegen den Verlust, selbstmächtig schalten und walten zu können. Das Wissen um die uneingestandene Selbstüberforderung macht unleidlich. Einzelgänger legen es auf Fallerfahrung an. Es hat die machtpolitische Versuchung die Grenze durch Übergriffigkeit der Interessenbehauptung bereits überschritten. Den Verwicklungen drohen gordische Knotenlösungen. Es besteht höchste Verständigungsnot unter den Großen der Welt. „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ So gab Tolstoi in einer Geschichte zu be-denken. In Abwandlung: Auf welche Größen sind die Fußabdrücke der Staaten heute einvernehmlich, wohlwollend und erdungsfähig zu verhandeln, um nicht Ausgelieferte einer friedlosen Welt zu sein?
Eine Buchempfehlung von mir bei Amazon: Walt Whitman, Grashalme. Übers. J. Schlaf, Nachw. J. Urzidil. Stuttgart 1996
Josef Mußmann Hat ein Produkt bewertet · 19. Juni 2018
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5 von fünf Sternen
WHITMANS GESANG AUF DIE „NEUE WELT“ DAMALS FORDERT DAS JUNGE EUROPA HEUTE HERAUS
Kleine und große Ausgabe lohnen unterschiedlich – fürs intellektuelle Hineinfinden,
Aufstöbern und Strukturgewinnung die kleine (Reclam), für Muße, entspanntes
Verweilenkönnen und weitergehende Vertiefung die große (Hanser)!
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Grashalme (Reclams Universal-Bibliothek)
4 von fünf Sternen23