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NACHDENKEN KÖNNEN
ZEIT FÜR GOLDSTAUB HABEN:
PLATONS HÖHLENGLEICHNIS
RELEVANZ DER INTERPRETATION

 

Ausgangslage

1

 

Es hat vielerlei Zugriffe der Interpretation in Bezug auf Platons Höhlengleichnis gegeben. Die Resultate stellen im Großen und Ganzen nicht zufrieden. Die Interpretationslust ist unverkennbar, aber auch häufig genug Willkür, handwerkliches Defizit, eine blühende Fantasie oder auch eine Dienstbarkeit für andere Zwecke, um nicht sogleich von einem „ideologischen“ Missbrauch zu reden. Gar nicht so selten en passant die Aufwertung und Schmückung einer zu exponierenden Position im Licht dieses großen Philosophen.

 

Im Laufe der Zeit meiner Auseinandersetzung mit Platons Höhlengleichnis habe ich selber etwa eine gute Handvoll an neuen Sichtweisen der Annäherung an den Text erlebt, hat sich nach und nach ein Rätsel nach dem anderen auflösen lassen und jedes Mal hat sich ein wesentliches Element auf die Strukturierung des ganzen Inhalts ausgewirkt. Aber auch anfänglich Klargeglaubtes trübte ein, stellte nicht mehr zufrieden, nahm sich zu platt aus und setzte weiteres Nachforschen und Begreifenwollen wieder in Gang. Von Mal zu Mal hat die Tiefenschärfe zugenommen, weg von oberflächlichen Assoziationen und Wissensstücken, weg von dem hilfesuchenden Schauen auf Deutungen anderer, hin zu einem ursprünglichen Selbstwissen im Vergleich mit dem Platon-Text, hin zu einem in sich Hineinhorchen, im Aufsuchen und Aufspüren noch präsenter oder wiederzufindender Anhaltspunkte in der eigenen Lebensentwicklung und Lebenserinnerung.

 

Was die konstruktive Hilfestellung im wissenschaftlichen Bereich für eine Einlassung auf das Höhlengleichnis angeht, vermöchte ich kein überzeugendes Beispiel anzugeben, welches sokratische „Hebammenhilfe“ geleistet hat, um zufriedenstellend in der Textanalyse und Textinterpretation inhaltlich voranzukommen, nämlich unverständliche beziehungsweise rätselhafte Textstellen aufzulösen. Selbst die Wikipedia-Orientierung (https://de.wikipedia.org/wiki/Höhlengleichnis) versagt darin, auf schwierige und rätselhafte Textstellen für die Deutungsaufgabe aufmerksam zu machen. Sie bleibt unkritisch, methodologisch ungeklärt, ohne Klarstellung der Voraussetzungen, Fragestellung,  Zielsetzung und Relevanzfragen in octopushafter Gemengelage stehen. Absurd wird die „universitäre“ Herausforderung, wenn naivem Bewusstsein verstiegene Aufgaben gestellt werden, bei denen selbst die Aufgabensteller eine Öffentlichkeit ihrer Ergebnisse für den Vergleich fürchten müssten. Der Lehrbetrieb steht ursächlich für den qualitativen Standard in der Auslegung des Höhlengleichnisses in Verantwortung. Die Ergebnisse sind notleidend und lassen abwinken. Wie der Herr, so das Gescherr! „Schülerbeispiele der Interpretation“ (sog. „Materialien zur Leistungsbewertung“ in Philosophie), die für den Vergleich den Lehrenden angeboten werden, können nicht das authentische „Vormachen“ und „Vorzeigen“ der Lehrenden selbst durch Lieferung eines Musterbeispiels ersetzen. Auch Freimut und Eingeständnis gehören dazu, beispielsweise dieser oder jener rätselhaften Stelle für eine Deutung nicht auf die Spur gekommen zu sein.  Der Schule wird Taylorismus vorgeworfen. (Taureck) Um das Höhlengleichnis einer besseren Zugänglichkeit zuzuführen, sei hier ein Erwartungshorizont der Kundigkeit an die Lehrenden in Erwägung und zum Ausdruck gebracht, der notwendiges Hintergrundwissen an die Hand gibt und anstoßweise Seh- und Deutungshilfen im ersten Klärungsgespräch für die wesentliche und weichenstellende Textaufschließung und Interpretation einspielen und leisten kann.

 

Sieben bildliche Elemente aus dem Höhlengleichnis haben eine große Bewunderung für sich, Kennzeichnungen, mit denen Platon Knotenpunkte der menschlichen Entwicklung auf geniale Aussagekraft für eine volle Bildung gebracht hat, die auch heute noch nach wie vor in der Lebensentwicklung von Bedeutung sind und in der richtigen Weise angegangen und gepflegt sein wollen, den vielen Verirrungen, Fixierungen und Auslassungen, die da durch mangelnde Texttreue, brüchige Gedankenführung , buntschillernde Vieldeutigkeit und widersprüchliche Folgerungen stattgefunden haben und stattfinden, entgegen. Man schaue sich zum Höhlengleichnis Versionen der Interpretation bei YouTube oder auch andere prosaische Präsentationen im Netz beliebig an. In Zuspitzung: Großer Verkehr auf der Datenautobahn und nicht wenige Teilnehmer mit ihrem eigenen Beitrag müsste sich gegen die vielen anderen für einen Geisterfahrer halten. So auch dieser Beitrag, der sich gegen die vielen anderen verquer ausnimmt und gänzlich aus dem Rahmen dadurch fällt, nämlich sich hermeneutisch der Sache des Textes verpflichtet zu wissen. Einige Beispiele prominenter Exponenten der Interpretation des Höhlengleichnisses, die bei aller assoziativen Vorstellungskunst – ihrer abwegigen Hineininterpretation oder oberflächlichen Dürftigkeit wie ihrer mangelnden Begriffsstutzigkeit oder ihrer hochtönenden Zurechtbiegerei wegen – einfach abzukanzeln wären. In der Summe: Es sind „Weber“ wie in „Des Kaisers neue Kleider“ am Werk.

 

Heidegger: Ein Irrlicht der  himmlischen Kartographie. Gräkomanisch infiziert. Aletheia-Fixierung der Lichtwerdung als Enthüllung und Entbergung, an einer textorientierten Deutung vorbei, die zeitbedeutsame Textstellen einfach auslässt. Ein ontologischer Tiefflieger in der existenzialistischen Höhle des Seins, ein Höhlenlichtdeuter, zweieinhalbtausend Jahre Unterschied wie ausgeblendet, nicht ein Höhenflieger auf dem ideellen Feld übergreifender Ideologiekritik in seiner Zeit. Einer, der mit den Wölfen in der Höhle geheult hat. Es können nicht einige Exzellenzstücke seiner Philosophie das Versagen am unbezwungenen Gebirgsmassiv des Deutschen Idealismus hinter sich lassen. Die Gefahr der falschen Sterndeutung ist nach wie vor nicht gebannt. Im Wesentlichen, was das missglückte Leitwerk, was Deutschland in ‚Sein‘ und ‚Zeit‘ angeht, dieses ‚Seiende im Ganzen‘ für den jungen Heidegger nach dem I. Weltkrieg, wie ein Ertrinkender wahrnehmend, der nicht mehr bei sich ist, sich in den Niederungen seines ‚In-der-Welt-Sein‘ erlebt und zur Besinnung gebracht werden soll, aus der „Seinsvergessenheit“ zum Imperativ des Seins aufzuwachen. Mit Nietzsche im Gepäck, dem Wissen um den philosophischen Hammer in europäischer Landschaft. Sozusagen Platons Neuauflage der ‚Politeia‘, noch ohne Meta-Ebene des Denkens für das Ganze der  zerstrittenen griechischen Stadtstaaten. Nicht das Wahre ist das Ganze, sondern es regiert unausgesprochen für das einzelne Seiende ‚im‘ Ganzen der Gedanke: Athens First! Lesart im Kontext: Survival of the fittest! Militarism. Im Ausblick heute: Star Wars.

 

Ballauff: Des Griechischen kundig, bringt Heideggers Übersetzung des Höhlengleichnisses in den Vergleich, bleibt in der Interpretation jedoch dem äußerlich enthüllenden Licht verhaftet, hinterfragt nicht das Rätselhafte,  wichtige Details, enthält sich tatsächlicher Konkretisierungen und Wissensbezüge, gerät für wirkliche Aufhellung und Bewertung zwiespältig. Auffällig der vorangestellte griechische Schrifttext, wie eine Verheißung bzw. Ankündigung auf strenge Auslegekunst. Es überwiegt jedoch im Verstehen die Plausibilisierung und pädagogische Feldbedienung. Nach der „Führerdekade“ eine Art Verdrängung oder auch nur esoterisches Verschleierungswissen. Weder geschichtskritisch wahrgenommen und eingeordnet noch kritisch zum eigenen wissenschaftlichen Zeitgeist pädagogischer Überlegungen und Positionierungen kenntlich gemacht. In gewisser Weise ein Kunststück, wie es möglich gewesen ist, die deutsche Höhlengeschichte auszuklammern beziehungsweise abzuspalten.

 

Fink: In Heideggers Fußstapfen. Zu bescheiden, leistet er doch Mehrwert. Jedoch mit dem Meister zweierlei Manko teilend: Nicht herausgetreten aus antiker Geschichtlichkeit und nicht klar und deutlich über „mythische“ Denkmuster hinaus  und im Standard der „wissenschaftlichen“ Moderne noch nicht wirklich angekommen.

 

Nida-Rümelin: Einer, noch ganz aktuell. Demokratie und Wahrheit als Vorbau, dann vorgetragenes Höhlengleichnis eigener Machart, für „wissenschaftliche Laufbahn“, aufwärts zur Sonneninsel der Seligen. Elitär, nicht auf allgemeine Bewusstseinsbildung und Basisverbreiterung hinaus. Kein Vorbild für hermeneutische Hebammenkunst. Heute wäre wohl ein Verdacht auf „Fake News“ angebracht. Wie man so sagt: Es steht Höhlengleichnis drauf, doch kommt wenig vom Klassikerstück zum Zug. Die Textsorte Gleichnis verpflichtet offenbar nicht die Interpretation. (YouTube, Das Höhlengleichnis)

 

Weilmeier: Ein Geburtshelfer, der offen und unverblümt „Haken“ einräumt, sie dann überspielt, die Saugglocke probiert und für die gliederlose „Missgeburt“ hohen Zuspruch und Dank von Schülern vor der Prüfung erfährt. Was läuft da hermeneutisch in der gymnasialen Oberstufe schief, wenn Schüler durch Weilmeiers Vortrag gefunden haben wollen, was der Unterricht nicht geliefert hat? (YouTube, Das Höhlengleichnis)

 

Im Folgenden wende ich mich den sieben bildlichen Elementen des Höhlengleichnisses zu. Platon lässt das menschliche Leben in der Höhle mit der Gewärtigung von Schattenspielen an der Höhlenwand beginnen. Vorbefindlichkeit des menschlichen Lebens, gänzliche Finsternis, noch kein Licht der Welt hat das Auge geweckt, zunächst noch alles gewissermaßen reflexhaft, instinktiv, bewusstlos, dem Sehen, Gewärtigen, der Wahrnehmung entzogen. Eine erste Aufhellung bringt die ‚Höhlenwand‘ mit den auftauchenden Silhouetten und Schatten. Im lockeren Verbund, der mütterlichen Schmiegsamkeit, sich Eindrücken öffnend, sie sammelnd, Verhaltensmuster aufbauend.  Das heißt, dass nicht mehr der Instinkt allein regiert, ein bloßes Reiz-Reaktion-Verhalten, sondern schon das flüchtige Schattenspiel im Kopf bildet das erste Ungefähr einer auftauchenden Innenwelt, sei es in nächtlichen Träumen oder seien es Gesichte, die sich plötzlich im Wachsein einstellen können. Salopp habe ich das, was die Höhlenwand an Nachbildern liefert, als Stammhirnkino bezeichnet. Es ist das, was Eltern zu mehr Bewusstsein fördern können, abends, auf der Bettkante sitzend, wenn sie mit dem Kind den Tag besprechen und es anregen, vor dem nach innen gewendeten Sehen all die Tagesdinge noch einmal Revue passieren zu lassen. So festigen sie Bewusstsein, das für ein Innehalten, beispielsweise in heikler Situation, über den bewusstlosen Instinkt wie über das noch nicht wachgerufene Wissen hinaus ist und nun aber anders reagieren kann. Aufmerksamkeit für zu Erinnerndes muss erst geweckt werden. Es ist ein deiktischer Anfang, begleitet von Empfindungslauten. Und in der ersten Mutter-Kind-Beziehung ist noch mehr Vorgängiges enthalten.

 

Anders vermerkt: Die Aussagen zum Höhlengefangenen werden von dieser Erklärungslage her verständlich, was die starre Blickrichtung angeht, die Fesselung von Kindheit an, fortwährend dem Vordergrundgeschehen ausgeliefert, die Schwierigkeit, sich aus dem mächtigen Bann der bleibenden Unmittelbarkeit zu befreien. Die fortspringende Gegenwart, die flüchtig und schattenhaft Gesehenes vorüberziehen lässt, regiert. Wer erinnert sich nicht, eine bunte Kulisse gesehen, aus dem Blick verloren zu haben, im Versuch dann, das Gesehene zurückzuholen, nur mehr auf diffuse Schemen zurückzublicken? Oder wie häufig an einer Häuserzeile vorbeigegangen und erst nach Jahren plötzlich ein markantes Detail wahrgenommen! Anders: Gerade noch die Türe abgeschlossen und schon ein paar Minuten später keine Erinnerung mehr daran. Komplexwahrnehmungen treffend in der Redewendung festgehalten: Aus den Augen, aus dem Sinn! Nicht mehr als ein Wisch, bedeutungslos. Schon vergessen. Der Film läuft, zieht den Blick auf sich, fesselt Bild um Bild, schlägt in den Bann. Fortwährend: Gesehenes und Sehendes sind eins. Es ist ein Sehen, ohne wahrgenommen zu haben. Das Verhalten auf die sprachlosen Bilder ist reflexhaft, intuitiv. Es gibt noch kein Wahrnehmendes, keine gerichtete Aufmerksamkeit, die für bewusstes Verhaltenkönnen registriert. Das Zurückrufen des Gesehenen kommt später, es übt sich unmerklich ein von Mal zu Mal durch bewusstes Abspeichern und abgerufenes Erinnern.

 

Großes Rätselraten haben in der Erstphase der Interpretationsversuche die „Fesselungen“ ausgelöst, die den „Nacken“ und die „Schenkel“ betreffen, die aus dem Text des Höhlengleichnisses allein nicht bedeutungsmäßig selbstredend sind, um den Sinn auffinden zu können. Eine gewisse Scham ist zu konstatieren, was die Schenkel betrifft, die Naheliegendes aus anderer Zeit ausgeschlossen hat. Mit Blick auf den Nacken: Zu konkret die unwillkürliche Assoziation – rein subjektiv: Sklavenjäger beispielsweise vor Augen – durch die Halsfesselung der Abgeschleppten bedingt, um noch auf den übertragenen Sinn zu kommen, den Platon in anderer Zuweisung mit der „zornmütigen“ Brust verbunden hat. „Nacken“ holt eher Überhebung und stolzen Hochmut ein, aber kann auch assoziativ „Nero“ und „Guillotine“ einspielen, weniger das Naheliegende: Übel der Tyrannis. Es wird nicht lange gefackelt. Der kurze Prozess findet statt. Leben in der Demokratie für junge Deutsche danach, nach dem II. Weltkrieg: „Gnade der späten Geburt“, sie hat nicht vor der „Nachimpfung“ durch „Pädagogen“ bewahrt, dass Diktatur ein guter Notnagel sei! Viele haben das Schweigen über die Vergangenheit vorgezogen, sich gehütet, über den schulischen Vorplatz der ‚Weißen Rose‘ ein Wort zu verlieren  und täglich noch lange Zeit nach dem „Notnagel“ gehandelt. Ich bin mir nicht sicher, vielleicht, nein, sicherlich ist der ungebildete Kopf für sich selbst so zu deuten: Hybris beziehungsweise Hochmut kommt vor dem Fall. Hochmut als fixes Denken und eitler Wahn, von einer gewissen Dummheit begünstigt,  gepaart mit viel Willkür in der Zielverfolgung.

 

Auf die beiden Rätselwörter des Höhlengleichnisses: Nacken und Schenkel wollte sich auf lange Zeit im Sinne einer jeweiligen Fessel nichts schlüssig reimen, um einen Punkttreffer zu landen. Auch die recht moderne Verwesentlichung der Triebstruktur, unwillkürliche und bewusstseinsbedürftige Lebensregungen, noch großenteils unbeherrscht, unkontrolliert und unbesonnen, auf die großen Drei bezogen: Zeugungstrieb, Nahrungstrieb und Behauptungstrieb, verweigerte dem bloßen Dual die Stimmigkeit. Der Hunger hat im Höhlengleichnis keinen Sinnträger und damit keinen ausgewiesenen Stellenwert, der doch elementar ist und der ebenso wie die beiden anderen unwillkürlichen Reflexäußerungen der Lebenstriebe befriedigungssuchend negativ ausschlagen und störende, schädigende oder gar gefährliche Bizarrerien annehmen kann. Dass die „Wächter“ der Polis in ihrer Funktion des Kriegshandwerks Besiegte gefangen nehmen, nicht mehr töten, die Hand abschlagen oder anderswie verstümmeln, sondern auf Nützlichkeit für Sklavendienste erkennen, sie den Gemeinen und Heloten zuschlagen und sich selber dadurch für   Feld- und Knochenarbeit entlasten, das ist heutigem Denken gar nicht mehr so klar. Mit dem in der Höhle lebenden Volk ist nicht die ganze Bewohnerschaft der Höhle gemeint. Die niedere Arbeitsbasis ist von der Herrschaft des Volkes ausgeschlossen, und zwar Gefangene, die den Freien zugehören, ganz und gar abhängig sind, sie sind ohne Eigenwert und Würde. Der Nutzwert entscheidet.

 

Das Zusammenleben heute schließt solche Abscheidung von Menschen, zu Arbeitstieren degradiert, aus. Arbeit ist ein notwendiges Lebensmittel aller und verpflichtet alle mehr oder weniger. Biblisch überliefert: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen! Für Platon ist die lebensnotwendige Arbeit als Lebensmittel noch kein Gedanke in der Vision einer lebenstüchtigen Polis, darum auch nicht sonderlich reflexionsbedürftig. Anders der unersättliche Sexualtrieb, der in Befriedigungslust alle Pflichten vergessen und zu großen Exzessen ausufern kann und beispielsweise mänadisch ausufert. Ebenso heikel der angestochene und ehrbesessene Behauptungstrieb, der vergeltungssüchtig oder rachegierig mit verletztem Stolz den Verstand an den Jähzorn verliert und sogar selbstmörderisch zum Furor bereit ist (hier der rasende Zorn des „Achill“). Schenkel und Nacken in Bezug auf Lustgier und Starrsinn, dionysische Räusche und demagogische Befeuerung. Der Tanz der Hormone (Eros) wie auch Adrenalinschub (Thymos), beide, die den Verstand blockieren, untergehen lassen, sind Kernprobleme der Höhle und sind der Besonnenheit und der Zügelung bedürftig, um dieser wilden Leidenschaften Herr werden zu können.

 

Ich komme nun zur Mauer mit dem „Marionettenspiel“, eine Mauer, die die Höhlenbewohnerschaft in Beherrschte und Herrschende teilt. So klar und deutlich ist das den Höhlengefangenen nicht, ist ihr Blick doch starr nach vorn auf das Schattenspiel an der Höhlenwand gerichtet, nicht nach hinten, auf das reelle Geschehen im Raum. Was im Hintergrund passiert, bleibt sozusagen „außen vor“, die Gefangenen kriegen Wesentliches nicht mit. Wichtiges entgeht ihnen. Das Stichwort „Marionettentheater“ will mehr mitteilen. Von der Wichtigkeit her verborgene Draht- oder Fadenzieher, die ein Publikum bedienen, nicht so harmlos wie im Theaterspiel, sondern tatsächlich, in der öffentlichen Versammlung mit demagogischen Auftritten, Versuchungen und Verführungen. Ungebildete Führungsfiguren, der Sinnlichkeit ausgeliefert; kurzsichtige Schläue, nicht über die Nasenspitze hinaus, desaströse Auswirkungen. Hintergrund und Vordergrund sind einander fremd, geben unmittelbar ihren Zusammenhang für Ungebildete nicht zu erkennen. Die Schattenbilder an der Höhlenwand heben die räumliche Wahrnehmung auf, verschmelzen Vordergrund und Hintergrund. Sollte der Zufall tatsächlich einen kurzen Blick hinter die Kulisse ermöglichen, sie ins Licht bringen, wie das Theaterspiel betrieben wird, wäre das kein Aufstecken eines wunderbaren Lichts, was da wirklich passiert. Wem wäre eine desillusionierende und abstoßende Wirkung unverständlich und das Schattenspiel an der Höhlenwand nicht wohlfeiler und wirklicher? In der Höhle des sinnlichen Gewärtigens gibt es kein Festes, Bleibendes, Verlässliches. Fliehende Bilder, die sich in Schatten auflösen. Was Wahrheit heißt, ist ein schemenhaftes, verworrenes, sich bloß unterscheidendes Bewusstsein von Tag und Nacht, von Wachsein und Schlafen, von Wähnen und Träumen. Ungebildet ist alles unmittelbare und verblassende Meinung und die eine ist nicht weniger als die andere und alles fließt unaufhörlich, zieht vorüber. Der Zustand fortwährenden Gewärtigens ist noch kein Wahrnehmen. Es bedarf der Pflöcke immer wieder für das Innewerden eines Festzuhaltenden.

 

Was das „Feuer“ angeht, hat es einen festen Platz in der Polis. Es erinnert die Bemächtigung einer Naturgewalt, die die Tiere fürchten, mit der der Mensch für sich eine lebensverändernde Umgänglichkeit gefunden hat, die im Prometheus-Mythos einen besonderen Ausdruck gefunden hat. Im Übrigen sei kurz im übertragenen Sinn angemerkt, dass es auch atmosphärisch den die Menschen versammelnden Festen, Beratungen und Gerichten in anderer Weise entspringt, diesen ereignishaften Zusammenkünften, die das alltägliche Einerlei aufheben und gegen mürrische und trostlose Stimmung wie belebende Frischeimpulse wirken, als lebe und stimuliere die Welt plötzlich wieder und lasse Öde, Trostlosigkeit und Freudlosigkeit hinter sich. Es temperiert, bringt erstes Licht ins Dunkel, schläft, flammt auf, wärmt, leuchtet, kann zum Brand werden, Leidenschaften entzünden, Begehrlichkeit wecken, ist ein Hauslicht den Lebensregungen, brennt es, sind wir wach, ist es aus, schlafen wir. Es leuchtet in unserem Kopf, lässt uns Tagbilder sehen, spendet Nachtlicht unseren Träumen. Und unsere Augenlider, sie sind gleichsam der Lichtschalter. Sie schalten uns im Regelfall tageszeitlich von der Außenwelt auf die Innenwelt um und umgekehrt.

 

Auch die Befreiungsversuche, die ihren Anfang in der Umwendung, Umlenkung oder Periagoge nehmen, haben nicht selten fehlende Anleitung und Hilfestellung missen und an falsche Befreier oder Liebhaber denken lassen, sind für die kritische Wahrnehmung mit dem Stichwort der „Knabenliebe“, die nicht wenige böse Geschichten kennt, zureichend gekennzeichnet. Deutlich wird, wie etwas nicht sein soll, nicht aber, wie es richtig zu leisten ist. Festzuhalten für die griechische Antike ist: Suchte anfangs der Liebhaber nach dem Knaben, so verkehrte sich später die Suche, dass der Jüngling gehalten war, seinen Liebhaber zu finden, um nicht schimpflich dazustehen. Die römische Linie gibt den fortschrittlichen Kontrast für eine veranstaltete Jugenderziehung, wehrhaft, ohne Knabenliebe. Mädchen verbleiben im Haus unter gestrenger und sittsamer Aufsicht der Mutter.

 

Für eine gelingende Befreiung im pädagogischen Walten bestimmter Personen bleibt das Höhlengleichnis selbst ein anspielendes Wort schuldig, um nicht an das Verstehen aus dem damaligen Zeitkontext heraus gebunden zu sein. Es setzt auf Evidenz des noch nicht im übertragenen Sinn Demonstrierten. Das Höhlengleichnis zeigt sich bezüglich des Befreiungsversuches bloß kritisch hinschauend, ganz allgemein, rein an natürlichen Reaktionsweisen orientiert, wie Umwendung nicht sein soll, was sie gefährdet. Das ist entschieden zu wenig, da indirekt die pädagogische „Knabenliebe“ als hegemoniales Modell jener Zeit unterlegt ist und Anleihen aus elterlich erfolgreicher Wegweisung in ihrem Einwirken und Gelingen fehlen beziehungsweise nicht sonderlich sichtbar werden und ein Fragezeichen auf jene Zeit sind, erschwert durch einen Unterschied von zweieinhalb Jahrtausend zu heute, um noch einen hilfreichen Rückverweis für die nähere Nachvollziehbarkeit verfügbar zu haben, über bloße Mutmaßungen hinaus.

 

Der männliche Grundzug ist vom angestrebten Ziel her eindeutig, er ist nicht nur anrüchig von der Gefährdungslage her zu sehen, ebenso wie jene aus heutiger Sicht nicht seltene Verfehlung sogenannter Vertrauenspersonen gegenüber jungen Menschen, sondern auch in anderer Anstößigkeit, nämlich durch die diskriminierende Hintansetzung des anderen Geschlechts für eine intelligible Selbsterschließung, ohne wesentliche Bedeutung des Ebenbürtigen, einer für den anderen, beide füreinander. Platons pädagogisches Konversionsstück ist unausgesprochen elitär, in der Beispielführung männlich dominant. Die Aufwertung der Frau liest sich eher als ein Gleichwertigkeitsappell der Wünschbarkeit, als eine extravagante Ausnahmeregel, als ein Sonderfall.

 

Was den Versuch Selbstbefreiung angeht, glaubt man, das Wesentliche schon vor Augen zu haben. Das hervorstechende Vordergrundgeschehen legt ein weiteres Hinterfragen nicht mehr nahe, insofern die Demonstration  des missglückten Befreiungsversuches kontraproduktives Erleben des Anvisierten freilegt. Das Aha-Erleben als Schmerz und fürchterliche Erfahrung von Gewaltsamkeit, unverstanden gezerrt und gestoßen werden, grell und schmerzhaft vom Licht getroffen werden, geblendet, lichtblind, desorientiert und hilflos. Wie kann angesichts solchen Erlebens auf solchem Weg noch ein lebenswerter Himmel winken, der da eher an falsche Einflüsterungen und Versprechungen denken lässt! Kein „Weiter voran!“ oder „Schätze erwarten uns!“ oder „Aufwärts zur Sonne“  vermag da noch zu locken und weiteren Mut herauszufordern. Das Eingeflüsterte muss ein Irrweg sein. Gegen dieses unsägliche Blendlicht müssen Schattenbilder und Widerhall das Wahre, die Wahrheit des Lebens sein, nicht der Umbruch und brutale Weg, das schmerzhafte Licht, das erblinden und  fortan zurückzucken lässt.

 

Die Rückwendung ist durchaus geboten. Mentale Abwehr von Lichteinflüssen hilft, um sich nicht noch einmal unsinniger Schmerzzufügung auszusetzen. Es wird die Lernwilligkeit blockiert. Reflexhaft unwillkürlich bocken, stocken und sich verweigern hier, dort, ein wenig weiser geworden, pädagogischen Einsichten folgend, der Überforderung entgegen: nicht zu schwierig, dosieren und ermuntern, den Menschen im Lernenden respektieren, ja sogar, warum nicht, das koedukative Momentum berechtigen. Überhaupt: Von Platon her, unterrichtlich Bekanntes, auf ihn zurückführbar: Zu klein Geratenes, wie die Buchstaben, durch Vergrößerung näherbringen, zu schnell Fliehendes strecken, zu Gedehntes, Langweile erzeugend, raffen. Das Paradebeispiel für die Großen: Was Gerechtigkeit ist, sie nicht am Gerichtsfall aufdröseln, sondern sie überaus deutlich im Großen am Staatsaufbau demonstrieren.

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