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HÖHLENGESCHICHTE

Über Dinge, die einem gefährlich werden können, wird, wenn es eben nur geht, nicht gesprochen. Sie werden verdrängt, abgespalten, vergessen. Verschüttet, überlagert, sind zu tief begraben, um noch das Bewusstsein zu erreichen. Es überwuchern neue Gegenstände des Interesses, der Selbstbestätigungen und des Selbsteinsatzes die abgesunkenen Schauplätze der Selbstverfehlungen. Solche Umgangsweisen mit unangenehmen Dingen und Themen können sogar in der Lebenswelt ansteckend wirken und zu Übertragungen führen, die unbewusst und reflexhaft übernommenes Verhalten wiederholen, dergestalt dass Menschen sich nicht eines „schwarzen Lochs“ bewusst sind, dass Dinge umgangen werden und auch fehlen oder wie selbstverständlich ausgelassen werden.

 

Es geht hier vornehmlich um Textinterpretationen zum Höhlengleichnis, die dem Anwendungsfall auf das „Dritte Reich“ aus dem Weg gegangen sind, obgleich offensichtliche Parallelen und gewichtige Referenzpunkte geradezu nahegelegt haben, die hermeneutische Auslegungskunst darauf zu verpflichten. Richtigerweise nicht unmittelbar nach dem II. Weltkrieg, um dem Innehalten nach einer Zeit des Außersichseins Raum zu geben. Doch fragwürdig und auch nicht hinnehmbar wird die Abstinenz, wenn selbst nach einigen Jahrzehnten der Komplex der nationalsozialistischen Zeit ausgespart bleibt, aufklärerisch übergangen wird, Verbildung und Verdummung stattfindet. Es fehlt nicht an verwirrender Kritik in der ersten Zeit, die das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und auf sogenannte falsche Propheten gezeigt hat. So hat die Kritik Platon, Hegel und Marx ins Visier genommen, aber auf Luther, Fichte und Nietzsche hin abgewiegelt und nicht zuletzt Heidegger als den deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts gelten lassen.

 

Es hat Heidegger nach dem I. Weltkrieg und vor dem II. Weltkrieg sich auf das Höhlengleichnis eingelassen und ihm für die Philosophie eine abgehobene Bedeutung gegeben. Nach dem II. Weltkrieg hat er nochmals eine Kurzfassung seiner Analyse und Auslegung vorgelegt, gestrafft und gereinigt. Und das ohne ein tiefergehendes Ausspielen seiner Platon-Kenntnisse und von eigenen Erfahrungen her mögliche Reflexionen für die deutsche Höhlenerfahrung aufblitzen zu lassen, die doch für ihn als „Höhlenforscher“ aufklärerisch unter dem Gesichtspunkt der Aletheia so naheliegend und greifbar war und von ihm auch erwartet werden konnte. Heideggers Schwierigkeit jedoch bestand darin, dass seine Vergangenheit nicht lupenrein war und ihm nicht daran gelegen war, über das Höhlengleichnis mit seinen eigenen Sehschäden und Sichtschädigungen konfrontiert zu werden. Wie Heidegger den Kalamitäten ausgewichen ist, so ist vergleichbar eine lange Reihe von Interpreten des Höhlengleichnisses, für die offen bleibt, ob das beunruhigte Gewissen abgewehrt oder der Modus eines anderen Gefragtseins im Nachkriegstrend hineingespielt hat, nach vorn zu schauen, das Leben geht weiter und dementsprechend nach hinten die Dinge nicht aufzurühren, sondern einfach auf sich beruhen zu lassen.

 

Die Sache des Höhlengleichnisses von Platons „Politeia“ her wartet nicht mit großen Schwierigkeiten auf, findet hermeneutische Einlassung und kein eilfertiges Kurzschließen statt. Die Höhle, von Platon, von der das Gleichnis spricht, leidet an Bildungsmangel, was die Tugenden für das Leben in der Polis betrifft: Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit. Was wäre der deutschen Höhle bewertungsweise für die Zeit der „Hitlerkarriere“ in Gänze zu unterstellen, von durchlebter Kriegshölle und Hungerzeiten? Vom Bumerang des Siegfriedens und dem Gold für Eisen, von Tod und Verderben, statt fetter Kriegsbeute krasse Schuldenlast und den umwälzenden Pleitegeier dazu. Wie wäre das Sittengemälde dieser Zeit des Höhlendaseins auf den Punkt zu bringen? Lebensgierige, Traumatisierte, Frustrierte, Wüstlinge, Mordlüsterne, Kriegsdisziplinierte, Hasardeure! Eine ressentimentverdichtete Gemengelage, auf Befreiungsversuch hinaus, berufen die blonde Bestie: flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl, arisch geadelt, missratenes Krüppzeug auszureuten, schließlich losgelassen als mörderisch völkische Kriegsgewalt, die scheitert und zu bedingungslosem Insichgehen geführt hat, sich demokratisch verfügen und noch äußerlich und unbegriffen anleiten lässt, Lebensdinge und Menschenantlitz neu gespiegelt schaut, universelle Ich-Du-Augenhöhe gewahrt, die Dinge selbst zusammenhält, Tod und Leben, sie nicht verselbstständigt auseinanderfallen lässt, nun ergeben von der lebensentwickelnden Seite ausgeht und sich nicht mehr von der zerstörerisch todbringenden Macht her bestimmen will (kann), Karten der Welt neu entdeckt, Völker auf Hilfsbedürftigkeit zur Selbsthilfe erkennt und Länder nicht als degradiertes Objekt für Eroberung und Ausplünderung vermerkt und die Sonne aller durch die denkende Vernunft für eine gerechte Welt weiß. Und den Weg zurück antritt, zu den Gefangenen in der Höhle, mit ihnen die vernünftige Sicht der Dinge zu kommunizieren, gegen blinde Lebensgier, für Maß und Mitte in den Bedürfnissen, sachgerecht und verständigungsbereit, sensibilisiert und intelligent, als Aufgang einer Morgenröte, ein Tagwerk vor sich habend, von der Sonnenbahn geleitet, auf befriedet verfasste Menschenwelt aller zielend. Um das Goethe-Wort wissend: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.“

 

So ein skizzenhafter Aufriss, der Platons Höhlengleichnis und die deutsche Katastrophengeschichte als Höhlenerfahrung miteinander in Beziehung setzt, die Zugriffsmöglichkeit vom Überblick her verdeutlicht und für Ausdifferenzierung und sokratisches Hebammengespräch eine reelle Vorlage insbesondere der Jugend an die Hand gibt. Die Höhlen-geschichte ist exemplarisch. Sie ist das Gleichnis unserer Zeit in der verstaatlichten Welt, die da auf sich einhausende und verhauste und gefährlich außerhäusige Höhlengeister gegen den übergreifenden Geist der planetarischen Lebenswelt wie auch gegen die substanzielle Gattungsvernunft auf Selbstverlorenheit, Selbstentfremdung und Selbstherrlichkeit zurückzufallen droht.

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