Der mütterliche Part des Menschseins
Es ist Michelangelo mit der Pieta ein schönes, erhabenes und hohes Kunstwerk gelungen. Ein menschheitliches Vermächtnis, sich universell darin wiederfinden zu können, den Schmerz, das Leid und den Verlust verwinden zu können. In die Leere hinein erinnert das Entrissene das Unverlorene, den eigenen Anteil daran. Als Leid, noch untröstliches Weh, es hebt sich auf in der Trauer, doch das allgemeine Leben geht weiter, fordert neu heraus, die Trauer, die dem verlorenen Teil gilt, der Lebensfreude zurückzuschenken. Der Schmerz, er prüft die Wahrheit, scheidet Wirklichkeit und Schein, stärkt das zu Bewahrende oder entschwindet im Nachlassen folgenlos.
Deutschland hat ein antihumanistisches Problem, gespeist aus geweckten Reflexen der NS-Zeit. Eine Spur mörderischer Verbrechen ist bis zum Hanauer Ereignis sichtbar geworden. Parzellierung der Zuschreibungen verharmlost die Größenordnung der Herausforderung, lenkt von gesamtgesellschaftlicher Betroffenheit ab. Die Ereignisflut an so vielen Fronten des politischen Lebens tut ein Übriges, um noch in dieser beschleunigten Welt der Ereignisse und Herausforderungen zur Besinnung zu kommen. Die Pieta Michelangelos oder die Pieta von Kollwitz als Fassadenanstrahlung in allen Städten Deutschlands hätte ein Entschleunigungszeichen der Trauer und Nachdenklichkeit setzen können. Doch dazu hat es wohl kulturpolitischen Verantwortlichen nicht an Geistesgegenwart gereicht, dem besinnlichen Momentum eine deutsche Allgemeinheit anzustimmen und das Innehalten auf menschliche Anteilnahme zu lenken.
Die deutsche Leistungsgesellschaft zeichnet sich nicht gerade durch einen hohen Grad an kultivierter Subjektivität in den zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Auch politisch sieht es nicht gut aus, was Wärme und Herz angeht, obwohl mit großer Sichtbarkeit Vermutungen dahin gehen müssten. Warmherzigkeit und mitfühlender Geist als Fehlanzeige. Die Gemordeten, keine ‚Bio-Deutschen‘, sie sind Störfaktoren, gegen Karneval und politische Selbstbeschäftigung, gegen die Hektik der Tage keines Wahrzeichens wert und würdig, brächten sie doch im Bekenntnis zu ihnen, den Rechtsextremen Wahlzulauf. Es mag unentschieden bleiben, bloß als Glaubenssache abgetan werden, als Aberglaube vergangener Jahrhunderte, dass die allgemeine Trauerbekundung in Deutschland ‚jenen‘ abgehalten hätte, der sein Auto in den Karnevalszug gejagt hat, doch die Denkminute sollte dafür schon sein, ob es nicht mehr als Ausdruck der Subjektivität in politischer Bekundung geben muss, als eine Flagge auf Halbmast zu setzen.
Totengedenken im Wahrzeichen der Pieta, es drückt eine übergreifende Einheit für alle aus, die im Momentum sich darauf einlassen, von dem Hohen, Erhabenen und Schönen des Kunstwerks angeregt, in sich zu gehen, sich zu erinnern, vielleicht der eigenen Mutter oder einer anderen nahestehenden Person aus Kindertagen, von einem herzergreifenden Ereignis bis ins Mark hinein getroffen, von einem Verlust, voller Gewahren von Leid, von Verlassenheit, vom Schmerz der Hilflosigkeit: wie weiter! Ja, wie weiter? So fragen heute die unmittelbar Betroffenen und auch all diejenigen, die sich selbstbetroffen im Ereignis wiedererkennen! Reicht die Humanität in Deutschland nicht so weit, sich demütig herausgefordert zu wissen und zeichensetzend zu bekennen? Es geht um Nachhaltigkeit, nicht um die altbekannte Husch-Husch-Manier und schon erledigt. Es muss ja auch nicht die Pieta sein. Ein subjektiver Zugriff. Aber trifft er nicht einen universellen Archetyp des Menschseins, das Zurückrufen der wärmenden, nährenden und liebkosenden Mutter, die in ihrer Trauer allein zu Fragen nach dem Zwischenmenschlichen der Anteilhabe und Anteilnahme anstößt, dem Schicksalhaften, dem Gleichgültigen, Verantwortungslosen entgegen?
Nur Dekoration: Art. 1 GG? Inhumanes Ingroup-Outgroup-Denken spitzt für Nicht-Bio-Deutsche die deutsche Geistesgestörtheit zu. Unaufgehoben: Die verantwortungslose Gesellschaft. Die Unfähigkeit zu trauern. Wo sind unsere literarischen Klassiker der Humanität in guter und nicht abzuwinkender Lesbarkeit wirkliches Gemeingut? Selbst bei denen, elitär am Original hochrational traktiert und zur Gefühllosigkeit abgehärtet, späterhin mit menschlichen Kollateralschäden gefühlskalt und ungerührt zu leben, ja, sie in ihren Geschäften einzubeziehen und auch zu kalkulieren. Eine Art stoizistisches Ideal, gegen die zur Erzählung anregende Pieta der Menschlichkeit, die in die Besinnung zu rufen sucht, ja, gegen den selbstverursachten Missklang mit dem Gang der Natur, unseren Lebensbedingungen, gegen die erzeugten Krisen der verstaatlichten Machtwelt, gegen die angetriebene Friedlosigkeit unter den Menschen und Völkern.
Deutschland ist nicht die Welt, eben darum gibt es auch die Klopfzeichen Verzweifelter an unserer Tür, vielleicht derjenigen, die es geschafft haben, nicht zu denen zu gehören, denen das Mittelmeer zum Grab geworden ist, sei es anders, die auf der Flucht vor Hunger, Verfolgung und Krieg verreckt sind, die in der Hölle von Gewehrfeuer, Granaten und Bomben die Hölle geschaut und umgekommen sind, nicht ein paar wenige, nein, hunderttausendfach, millionenfach, von Mutter Erde zurückgenommen, von Müttern, in Sorge um das Schicksal ihrer Kinder, schwermütig und herzkrank, im Tagesgebet bedacht. Haben wir zur Mutter Deutschlands je aufgeschaut, zur deutschen Pieta, in Stein gehauen von Käthe Kollwitz, eigenes Schicksal und das der anderen zum Anlass genommen, uns nur für einige Augenblicke berühren zu lassen? Zehn Minuten reichen im Angesicht der Pieta Michelangelos, um in sich allein den Mollton neu zu entdecken. Jedoch gleichzeitig, intoniert, beispielgebend, vielleicht dadurch sogar in Milliardenzahl verbunden, das schafft menschheitliche Gemeinschaftlichkeit im gleichen Geiste, das macht stark und gelassen und erhebend zugleich. Gar nicht utopisch beziehungsweise als unrealistisch abzutun. Die Pieta ist ein guter Lichtstrahl in unser Herz und in unserer Zeit großer Ängstigungen. Zurzeit: Es schleicht um Pandemie, auch der Angst, noch nicht der Selbstbesinnung!