Vom Nebenschauplatz zum Hauptschauplatz
Merkel-Auftritt in Stralsund: Wie man mit Fanatikern redet - und warum
SPIEGEL ONLINE - 18.08.2019
Angela Merkel hat diese Woche einen AfD-Politiker öffentlich über Meinungsfreiheit aufgeklärt. Unwahrscheinlich, dass sie ihn überzeugt hat. Dennoch ist der Austausch ein Lehrstück über den Umgang mit der AfD. Eine Kolumne von Christian Stöcker
Komplement: Wie noch anders gegen TIME LAG Kritik überfällig ist!
Hey, hey! Ist ja eine nette Geste, ein ins Gesicht der Kanzlerin gezaubertes großmütterliches Lächeln zu präsentieren und das „Patientengespräch“ für den rhetorischen Umgang mit den gegnerischen Rechten, die so penetrant rechtslastig geworden sind und hier und da auch argumentativ angebräunt durchscheinen, aufzuwerten. Es muss jedoch um mehr gehen, nicht um einen Nebenschauplatz im rhetorischen Verhalten, sondern um den Hauptschauplattz einer ignorierten Umbruchszeit, auf den tatsächlich die medizinische Verfahrensweise aussagekräftig wird, Erhellendes zu leisten: Anamnese, Diagnose, Therapie.
Der Umgang mit dem demonstrativen Protest (Pegida) hat die Schwierigkeiten nicht gelöst, sondern sich von Mal zu Mal zum Spaltpilz gesteigert, Rechtsaußen-Reflexe durch „Waldrufer“ gefördert und dadurch zu Erfolgen der AfD geführt, bis ins bundesdeutsche Parlament hinein. Die vordergründige Bekämpfungsweise von der eigenen hehren Position vermeintlicher Untadeligkeit und eines Vorsprungswissens her hat getrogen und dem Hochmut ist nun angesichts der anstehenden Wahlen in den östlichen Bundesländern das Lachen der Siegesgewissheit vergangen. Die Union vermeint durch mehr fadenscheiniges Verständnis und wirtschaftliche Maßnahmen wieder auf Zugewinn hoffen zu dürfen und die SPD glaubt, für schwierige Übergangszeiten des Strukturwandels durch sozialpolitische Flankierung der Arbeitsgesellschaft mehr Vertrauen der Menschen zurückzuerlangen und verhält sich, als befände sie sich zu der aktuellen Politik in einem anderen Film. Doch wie die Dinge stehen, scheinen viele Menschen nicht sonderlich von den „Volksparteien“ überzeugt zu sein und es sieht so aus, als würden sie auch bereit sein und sich nicht davon abschrecken lassen, eine schlimme Verwirbelung der ganzen Parteienlandschaft zu riskieren.
Die Menschen haben ihre Erfahrungen mit den Parteien gemacht, die das Vertrauen verloren haben. Negative Wahlergebnisse haben keine Kurskorrektur bewirkt. Für wen Kurs gehalten worden ist, hat die Scherenöffnung von Arm und Reich deutlich gemacht. Dass die Links-Politik Linie und Schlagkraft verloren hat, nicht über Trostpflästerchen hinauskommt, verdeutlichen die Linken, die mit ihren Forderungen mit Dauer-Abo ins Leere laufen, verdeutlichen die Sozialdemokraten, die sich in der Koalition brav als Angestellte der Union verhalten und ein traditionelles Eheverhältnis der eingeheirateten Ehefrau pflegen. Der Ehegatte macht lautstarke Politik, die Ehegattin hält still, mischt sich nicht ein, verrichtet die Arbeit, hat nichts zu melden und kommt aus ihrem Schattendasein nicht heraus.
Wie erklärt sich bloß dieser Mangel an Wertschätzung, überhaupt diese Umschwungbereitschaft in der Wählerstimmung, sogar auf gärig Zusammengewürfeltes, Risikosteigerndes und Vergangenheitsbelastetes umschwenken zu wollen? Wie kann man dieser Selbstauslieferung an ein unberechenbares Experiment bloß gegensteuern, ihr therapeutisch begegnen? Darauf würde eine Antwort erwartet werden, die von einem behandelnden Arzt stammen könnte, der jedoch für die Maßnahmen auf die noch fehlende Diagnose verweisen würde, für welche ihm nicht weniger bedeutsam in der Regel die Vorgeschichte beziehungsweise die Erhebung einer Anamnese ist.
Was die Vorgeschichte in der deutschen Politik nach dem II. Weltkrieg gewesen ist, so war in dieser Zeit Anamnese nicht gefragt, sie wurde verdrängt und abgespalten. Wir kennen die Gründe dafür, dieses Aufrühren negativer Dinge zu unterlassen. Aus Unterlassung ist politische Gewohnheit geworden, welche die Schattenlosigkeit liebt, keine Wahrheitsfragen stellt und darauf aus ist, sich nur vom Licht anstrahlen zu lassen. Für die Diagnose in den Fällen von Unpässlichkeiten, Leistungsausfällen und Depressionen reichte das Links-Rechts-Schema für die Lokalisierung des entstandenen Unwohl -seins aus, sei es, um für die Therapie mehr Soziales oder mehr Wirtschaftliches zu verordnen und eventuell auch noch einen Regimewechsel anzuempfehlen.
Nun vermögen wir durchaus mehr, was die deutschen Regierungsgeschichten angeht, zu erklären, denen zu aufgekommenen Schwierigkeiten und prekären Lagen die jeweilige Vorgeschichte fehlt, um von daher sachliche und menschliche Fehlerquellen angehen und aufheben zu können . Sie springen im politischen Wechselwirkungsmechanismus periodisch fort, sind programmatisch so schlüssig wie Neujahresvorsätze, symptomatisch immer wieder neu, alle Jahre wieder. Was die Frage nach der Wahrheit als Basisgröße für tragfähige Entscheidungsrationalität angeht, wird sie Historikern aufgegeben, zeitlich so vertagt, dass die Aufarbeitung keine Verantwortlichen mehr greifen und treffen kann.
Es hat unsere Kanzlerin eine zu lange oder zu sedierende Regierungszeit hinter sich gebracht. Im Wesentlichen hat sie die Umstellungsnotwendigkeit der deutschen Politik von der Horizontalen: Links-Mitte-Rechts auf die Vertikale: Lokal-Mitte-Global nicht begriffen, ebenso die anderen Altparteien, die den Part des Lokalen zum Part des Globalen zur rechtsnationalen Denke uminterpretiert haben und dadurch vermeinten, leichteres Spiel mit den „Hanswürsten der Straße“ zu haben. In dieser Weise haben die Altparteien einen rationalen Umgang mit dem berechtigten Part des Lokalen nazistisch konterkariert und sie sind vom hohen Ross mit ihrem gespitzten Mund auf die Schnauze gefallen. Die einfachen Menschen einer handfesten Lebenswelt haben sich nicht zum schulischen Hinterbänkler aufbauen lassen, der vor der intellektuellen Höhe der Klugsprecher mit Lehrerautorität im Hintergrund einknickt. Und eins kommt zum anderen, plötzlich sortiert sich Untergrund neu und protestierende „Rambos“ scheuen den öffentlichen Auftritt nicht und die anonymen Sympathisanten geben verstärkt ihren Unmut – wie das Gekritzel und Geschmiersel in Schultoiletten – in den sozialen Netzwerken kund.
Was in deutscher Politik wie auch in den Medien keine Revision gefunden hat, heißt: Time Lag! Und auch Mangel an Selbstkritik und Selbstüberholung. Es geht um Wahrnehmungsmuster, die wirklich obsolet sind, nicht abgeschafft werden müssen, die aber den Rangplatz der ersten Reihe verloren haben und nachgeordnet erst zum Zuge kommen sollten. Die Rückerlangung der Souveränitätsrechte hat zugleich die Selbstverantwortlichkeit für geopolitisches Verhalten in der Welt zur Folge gehabt. Aus dem Mehr an Rechten ist zugleich ein Mehr an Pflichten geworden. Mitverantwortung gilt den global tragfähigen und nachhaltigen Lebensbedingungen in der Natur nach dem Verursacher- und Kompensationsprinzip, einer rechtlich und freiheitlich funktionierenden Weltordnung aller ihrer gegliederten Teile, kommunikationserschlossen und vernunftbestimmt, nicht zuletzt subsidiär und solidarisch der menschheitlichen Völkerfamilie, menschenwürdig und integrationsfähig. Deutsche Politik nach der Wiedervereinigung hat sich subaltern von seinen Möglichkeiten her in Bezug auf die Lebensgrundlagen der Natur, auf Strategien für den Weltfrieden, auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker verhalten. Das Prinzip der Sichtfahrt steht für die kurzsichtige nationalstaatliche Politik Deutschlands.
Als Beispiel für fleischgewordene Gestrigkeit diene die „stolze“ SPD, die sich vom Markenkern her den Menschen der Arbeitsgesellschaft verpflichtet weiß, aber von ihrem Phlegma her viele andere Gruppen der Gesellschaft überhaupt nicht auf dem Schirm ihres Interesses hat. Der Markenkern für das lokale Interesse eines wetterfesten Gemeinwesens gegenüber dem Part globaler Pflichten und Anforderungen ist vakant, nicht minder fehlt das ideelle Interesse für ein funktionsgerechtes Zusammenspiels der Kräfte im globalen Zusammenhang. Mit Kapital und Arbeit, die das Kernstück der beiden Volksparteien ausgemacht haben, ist die Welt nicht ausdefiniert. Ostdeutschland wäre das Paradebeispiel, wer bzw. welche Partei sich denn um die unter die Räder gekommenen Menschen der abgehängten Gegenden und Regionen in Deutschland kümmert, die weder Kapital noch Arbeit haben und denen nicht mit statistischen Zahlen und europäischem Vergleich die gelebte Misere ausgeredet werden kann, wie es doch von oben herab in abwimmelnder Weise versucht worden ist. Es ist nicht die Brotpolitik allein, geht es doch auch um das Selbstwertgefühl. Wer ist für das Klima der vom Umstellungsklima schicksalhaft betroffenen Menschen verantwortlich gewesen, hat ermuntert, ermutigt und Wertschätzung gezollt? Die finanzielle Transaktion und das Abwickeln können doch für das Zusammenwachsen nicht alles gewesen sein! Wie erfolgreich sähe so der europäische Integrationsprozess in Bezug auf die buntscheckigen EU-Länder aus, wenn nationalstaatliche Einheitsanstrengungen vom gesellschaftlichen Teil her mit dem Spaltpilz schwanger gehen? Sind nicht Griechenland und die ostdeutschen Bundesländer von der Subjektivitätslage her vergleichbar? Heißt das nicht auch für den Integrationswillen der EU, dass Investitionen in libidinöse Bindungen einer europäischen Gesellschaft sträflich vernachlässigt worden sind und nach wie vor vernachlässigt werden?
Zwei Dinge, die ein Schlaglicht auf den Mangel an deutscher Selbstwahrnehmung in der europäischen Politik werfen und für gestörte Empathie und Misere bis in den Brexit hinein stehen. Es tut not, sich Situationen aus dem alltäglichen Leben vorzustellen, um begreifen zu können, was da politisch passiert ist. Zur ersten Tumbheit habe man das Bild einer Liebeserklärung vor Augen, die vor aller Augen getan wird und keine Erwiderung findet, reaktionslos übergangen wird und von der umworbenen Seite ein wenig später – wie stellvertretend AKK – mit Unvereinbarkeiten abgekanzelt wird. So Emmanuel Macrons Liebeserklärung an Deutschland und nicht einmal eine Dankeserklärung mit Sympathiebekundung zurück und an das französische Volk. Wie wird Macron mit dieser Abfuhr in Frankreich angekommen sein?
Die andere Sache betrifft einen Ex-Verbrecher, der ins Gemeinschaftsleben zurückgefunden hat, sich gut und erfolgreich zivilisiert hat und von einem tatkräftigen und einflussreichen Herrn für hilfreich befunden worden ist, ihm durch eine Führungsaufgabe in seinem Außenbereich dienstbar zu sein. Solche Wertschätzung baut auf, hat bei nicht wenigen den Kamm auf Führungsrolle schwellen lassen, nährt verständlicherweise auch Eitelkeit. Befremdet aber nichtsdestoweniger den herausgeforderten anderen, selbstbewussten Stolz, eben nicht gefragt und abgemeldet zu sein, so einen Nachbarn, der, überfallen und siegreich Gegenwehr geleistet hat, nun diesen Ex-Verbrecher vor die Nase gesetzt bekommt! Empörung regt sich, sich von einer verkehrten Welt bevormundet zu sehen. Der Ex-Verbrecher auch noch als moralischer Imperialist. Und der Gipfel ist es, Lorbeer und Meriten aus großer, heroischer Vergangenheit dekorativ abgestuft zu sehen, für das Austrittsbegehren aus solchem Verein dann gesagt zu bekommen, dass für die Neuorientierung gilt, ohne Vorrechte zu sein, als geschichtlicher Mohr ausgespielt zu haben und sich für Neuvernetzung der Reihenfolge bewusst zu sein, nämlich sich hinten anstellen zu müssen. – Sind wir Ausgelieferte der historisch-politischen Pendelausschläge in der Welt, unvermögend, die Vernunft des Absoluten gegen das Hin und Her zu denken?