Das „kleine“ Höhlengleichnis
Im „Phaidon“ (Kapitel 33) ist die Genese zu Platons „Höhlengleichnis“ gegeben, sozusagen die aufkeimende Idee, noch nicht ausdifferenziert, von fortschreitender Erkenntnisgewinnung abhängig. Den Überarbeitungsstand gibt die Neufassung in der „Politeia“ (VII) wieder.
Mit Blick auf die Übersetzung sei vermerkt, dass die Schleiermacher-Version (lwww.opera-platonis.de/Phaidon.pdf, Textstelle 83) weniger an das Höhlengleichnis denken lässt und eher den Anstupser für intensive Vergewisserung und ein abzuringendes Zugeständnis braucht. Der Textauszug hier gibt hier die Übersetzung von Otto Apelt wieder. (Phaidon, in: Platon. Sämtliche Dialoge, Bd. II, Hamburg 1988)
Wert der Philosophie als Erhebung: Es wird der Aufstieg zu den Göttern den Weisheitsliebenden zuerkannt, den Philosophierenden. Diesem Aufstieg geht das Reinigungs- und Befreiungswerk hinsichtlich der Seele des Menschen voran, sie aus Befangenheit, Fesselung und Verfestigung zu lösen, die der Sinnlichkeit zu eigen sind. Der Gedankengang ist einfach, er überfordert die Fassungskraft nicht, aber eröffnet propädeutisch einen sinnvollen Zugang zum „großen“ Höhlengleichnis, das an einem „Wozu“ durch den Entwurf der „Politeia“ ausgerichtet ist. Platon schildert die pädagogisch-philosophische Situation wie folgt:
„Die Weisheitsliebenden gelangen zu folgender Erkenntnis: Ihre Seele war, ehe die Philosophie sie in ihre Obhut nahm, völlig an den Körper gekettet und mit ihm wie zusammengeschweißt; sie war gezwungen, die Dinge durch den Körper wie durch einen Kerker hindurch zu betrachten, nicht aber durch die ihr eigene Kraft, und sich im Dunkel völliger Unwissenheit herumzutreiben; die Philosophie nun bemerkte den furchtbaren Druck dieser Einkerkerung, nämlich dass durch die Gewalt der Begierde der Gefesselte selbst gewissermaßen sein eigener Kerkermeister wird; nachdem also die Philosophie die in solchem Zustand befindliche Seele in ihre Obhut genommen, richtet sie sie durch sanften Zuspruch auf und sucht ihr zur Freiheit zu verhelfen. Zu dem Ende macht sie ihr klar, dass die Betrachtung durch das Auge voll ist von Täuschung, nicht minder die durch das Ohr und die übrigen Sinne; und sie redet ihr zu, die Gemeinschaft mit ihnen auf das unerlässlichste Maß zu beschränken und muntert sie auf, sich ganz in sich selbst zurückzuziehen und zu sammeln und ausschließlich sich selbst zu vertrauen, also nur das zu glauben, was sie rein durch die eigene Kraft als das an sich selbst Seiende an den Dingen erkannt habe, was sie aber durch fremde Organe hier so, dort anders beschaffen schaue, davon nichts für wahr zu halten; es sei aber dies letztere das sinnlich Wahrgenommene und Gesehene, was sie aber selbst schaue, das nur Denkbare und Unsichtbare. Dieser Befreiung glaubt nun die Seele des wahrhaften Philosophen sich nicht widersetzen zu sollen und darum enthält sie sich der Lüste und Begierden, der Trauer und der Furcht so viel sie kann, denn sie sagt sich, dass wenn man sich heftiger Lust oder Furcht oder Trauer oder Begierde hingibt, uns nicht nur ein Übel von der Größe, wie man es gewöhnlich von dieser Seite zu erfahren glaubt, z.B. Krankheit oder Geldverlust infolge der Begierden droht, sondern dass man das allergrößte und äußerste Übel auf sich zieht, ohne sich dessen recht bewusst zu sein.“
Was den „Nagel“ angeht, der dem der Sinnlichkeit verhafteten Menschen übel und ruinös mitspielt, gibt der Phaidon-Text weitere Auskunft. Zur Textsequenz hier: Eine pointierte Darlegung der „Fesseln“ im Höhlenleben fehlt noch dem Phaidon-Text, ebenso die herausgemeißelten Aufstiegsstufen des Befreiungsweges zur „Idee des Guten“. Im Sinne einer kritischen Vergleichbarkeit entspräche Platons Skizze wesentlich dem Aufgabenfeld der Psychologie, die einem zu behandelnden Patienten (Trauma, Sucht, Mobbing, Zappelei u.a.m.) Besserung durch Anpassung an die Gegebenheiten bringt, aber nicht kontextkritisch und in toto ursächlich verfährt. Platon bindet „extravagant“ auf philosophische Unterweisung zurück und schneidet die „Aufstiegshungrigen“ von den leidenschaftlichen Gefährdungen der Sinnlichkeit durch das Reinigungswerk ab. Sozusagen eine Art Gesprächstherapie wie auch Verhaltenstherapie lässt sich darin erkennen. In Anbetracht der grottenschlechten Interpretationslage zum „großen“ Höhlengleichnis der „Politeia“ drängt sich der Gedanke auf, ob nicht ein Umstieg vom „großen“ zum „kleinen“ Höhlengleichnis für viele, die sich vom Höhlengleichnis für Einweisung oder Deutung angezogen fühlen, bedenkenswert wäre, und zwar der Selbstüberforderung, Verworrenheit und dem Ausweichen in die Fantasterei entgegen, sei es beim Oberstufenschüler oder Studenten, die Lehrenden an Schule und Universität nicht zu vergessen. Die Münze hat zwei Seiten.